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Der Plan der Zeit

Russland 1898

Brüche im Wahnsinn

Das Schicksal lässt Boris nicht in Ruhe. Dabei will er doch nur von der Welt vergessen werden und zusammen mit Olga in Sibirien Frieden seinen finden. Aber die Welt ist mit Boris noch nicht fertig. Manchmal kommt ihm der Verdacht, Olga könne vielleicht doch keine Halluzination sein. Gut, dass er sich an Strix‘ Anweisung hält, sie wie ein echtes Kind zu behandeln.


Scherben der Realität

Es verschlägt Boris nach Perm, um in der eingekesselten Stadt Wassilisa zu finden – die Krankenschwester, die im Versuchslazarett Boris‘ Wunden versorgte, bevor die Quantenmagier mit ihren Experimenten begannen. Während Boris sich fragt, ob Wassilisa echt ist oder eine weitere Wahnvorstellung seines kranken Verstandes, begegnet er Iwan Pawlow. Der Mediziner hat vom Zaren in Petersburg den Auftrag erhalten, einen verwirrten Zaren-Doppelgänger aufzuspüren. Boris ahnt, dass es sich dabei um den Zeitzwilling handelt und es nur eine Frage der Zeit ist, wann sich ihre Wege wieder kreuzen.


Risse in der Zeit

Nikola Tesla ist überzeugt, vor 40 Jahren hat der Super-GAU Raum und Zeit ausgelöscht. Nur aufgrund eines Paradoxons existiert die Welt noch. Für Boris ist klar, das Schicksal ist noch nicht fertig mit ihm und wird von ihm mehr Opfer verlangen, als er zu geben bereit ist.

Boris und die Zeichen
Olga rettet Boris

Boris und die Liebe

Neben Olga ist die Erinnerung an Wassilisa das einzig positive in Boris‘ Leben. So verwundert es nicht, dass er nicht sicher ist, ob sie nicht auch nur ein Geschenk seines verwirrten Verstandes an seine geschundene Seele sein könne. Im Versuchslazarett was Wassilisa eine zeitlang seine Krankenschwester, bevor er auf die geheime Station verlegt wurde. Doch in der Nacht bevor die Experimente beginnen sollten, gelang es ihr, sich heimlich Zutritt zu dieser Station zu verschaffen. Sie wusste, das sie nichts für Boris tun konnte, um ihm die bevorstehenden Qualen zu ersparen. Sie konnte ihm nur etwas geben, in dem er vielleicht Trost fände, wenn die Quantenmagier ihn zum »Blauen Krieger« umbauten. Sie glaubte, sie teilte nur aus Mitleid das Lager mit ihm.


Der Soldat und die Anarchistin

Zwei Jahre nach dem Versuchslazarett begegen sie im Ural. Boris scheut sich, das Wort »Liebe« zu benutzen, denn es hat eine Tragweite, die er nicht ermessen kann, und fürchtet, das Schicksal würde wieder auf ihn aufmerksam werden, wenn es mitbekäme, dass auch ihm etwas Glück zuteil wurde: doch er weiß, er liebt Wassilisa.

Der Kuss im Versuchslazarett

Außenseiter

In der heutigen Zeit hätte man bei Boris womöglich das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Aber 1852, als Boris geboren wurde, galten diese »Muschelkinder« als schwachsinnig und zurückgeblieben.

Schneckensuppe

Olgas Kochkünste sind eher berüchtigt als berühmt. Immer hungrig, immer auf sich allein gestellt, musste sie essen was da war, um nicht zu verhungern. Sie ließ sich vole Arten einfallen, nacktschnecken zuzubereiten.

Die Maschine

Leseprobe


5. Kapitel

Im Kerker


Boris

Um zum Keller zu gelangen, mussten Boris und Pawlow den Weg, den sie gekommen waren, zurückgehen. Vorbei an dem Raum mit der Familie, der Mutter, die bei seinem Anblick vor Entsetzen erstarrte, dem Kind, das sich ihm anbot. Es fiel Boris immer schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, je näher er diesem Raum kam. Er hörte die Familie essen, den Blick hielt er starr auf den leeren Türrahmen geheftet, als könne er dadurch das Grauen bannen, daran hindern, diesen Raum und das Vergessen zu verlassen. Es half nicht, stattdessen wurde es schlimmer: Er hörte die Stimmen wieder. Sie redeten durcheinander, ein Stimmengewirr, das sich aus seinem Unterbewusstsein hinaus an die Oberfläche fraß. Böse bis ins Mark … Mal sehen, ob du wenigstens meine Neugier befriedigen kannst … Hör auf zu zappeln, ich weiß doch, du magst es.
Der Fußboden des Krankenhauses war nach wie vor aus Stein, übersät mit Glassplittern und Schutt, doch in Boris‘ Vorstellung verwandelte er sich in etwas Nachgiebiges. Es fühlte sich an, als liefe er über die Körper toter Menschen. Verschwommen sah er Pawlow am anderen Ende des Ganges stehen, wartend und ihn stirnrunzelnd betrachtend. Seltsamerweise half es, an dem Raum vorbeizukommen, die Stimmen zu verdrängen. Sobald er Pawlow erreicht hatte, ging es ihm besser. Strix hatte ihn gewarnt, die Bilder kämen zurück, nicht alle auf einmal, so wie in Cöln, doch er konnte ihnen nicht entkommen. Boris versuchte sich auf die wenigen positiven Erinnerungen zu konzentrieren, die Strix in den Tiefen seines Unterbewusstseins gefunden hatte. Das Fohlen, das er einst streichelte. Sein weiches Fell. Wem hatte das Fohlen gehört? War es seins gewesen? Er erinnerte sich nicht, nur dass es ganz zutraulich gewesen war, angesprungen kam, sobald es ihn erblickte. Wie alt war er damals gewesen? Fünf? Sechs?
»Boris! Boris!« Pawlow gestikulierte mit der Hand vor seinem Gesicht, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ja?«, fragte er, voller Angst vor etwas, was er nicht benennen konnte.
»Sag mal«, Pawlow legte seine hohe Stirn in tiefe Falten, »du bist kein Sonderagent mit einem geheimen Spezialauftrag. Du bist einfach nur das, was da auf deinem Zettel steht: Ein armer Kerl, der aus der Armee entlassen wurde.«
»Ich bin kein Soldat mehr.« In diesem Moment war es mehr als eine schlichte Tatsache, auf eine unerklärliche Art schien es ein Versprechen zu sein. Boris‘ Blick wanderte in die Richtung, in der sich das Feldlager befand.
»Doch dem, der das Dokument ausgestellt hat, bist du begegnet.«
»Ja«, murmelte er geistesabwesend, es fühlte sich so an, als wäre er zwischen zwei Wirklichkeiten gefangen, und es bestand die Möglichkeit, das keine von ihnen Substanz besaß.
»Und ihr wart auf dem Weg nach Perm!«
»Ja.«
»Was ist dann passiert? Wohin ist er gegangen, mit wem hat er gesprochen?«
»Ich weiß es nicht«, Boris schüttelte sich, um das Gefühl, aus der Realität herausgefallen zu sein, loszuwerden. »Er hat mich erschossen.«
Pawlow musterte ihn eingehend, nicht feindselig, dennoch wäre er dem Blick gerne ausgewichen.
»Und weswegen bist du wirklich hier? Warst du hier einmal Patient?«
Irritiert bemerkte Boris, dass er mit dem Rücken gegen die Wand lehnte, als wäre er taumelnd gegen sie gestürzt. Er richtete sich auf, wollte nicht länger bleiben. Hatte ihn nicht jemand in den Keller geschickt? Er suchte etwas.
»Erhoffst du dir Hilfe? Kanntest du Doktor Nikitin?«
Wie von selbst wanderte seine Hand zu seinem Gesicht, berührten seine Metallfinger die lange, tiefe Narbe. Er hörte Olgas Stimme: Dich hat auch nie einer haben wollen. Er entspannte sich ein wenig. Es half, an seine Halluzination zu denken.
»Wir müssen nach unten. Zu den … Idioten.«
Pawlow zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Als Boris sich in Bewegung setzte, folgte er ihm.

Boris fand eine Treppe, die nach unten führte. Sie war schmal und ungewöhnlich lang. Bald drang kein Licht von oben mehr zu ihnen und Boris entfernte die letzten Blätter, mit denen er das Leuchten der quantenmagischen Energie verdeckt hatte. Zwei Mal durchschritten sie Gittertüren. Sie standen offen, die Schlösser aufgebrochen. Noch bevor sie das Ende der Treppe erreichten, hörte er, dass sich dort unten Menschen aufhielten. Schließlich standen sie in einem weiteren Gang, in völliger Dunkelheit bis auf die Blase aus schwachem blauen Licht. Sie waren nicht allein. Blasse Gestalten, eher Geister als Menschen, schlurften umher. Mache wandten sich geblendet ab, einige kamen zögernd näher, während andere sie nicht zu bemerken schienen, obwohl sie nur die Hand auszustrecken bräuchten, um Boris oder Pawlow zu berühren.
»Barbarisch«, murmelte Pawlow. »Als lebten wir noch im Mittelalter. Wenn das mein alter Studienkollege zu verantworten hat, ist er zu Recht verhaftet worden.«
Er stellte seine Taschen ab, holte eine kleine Zeichnung und eine Taschenlampe hervor, ein gelber Lichtkegel zwängte sich in die Schatten, die nur widerwillig zurückwichen. Er leuchtete den Gestalten ins Gesicht, hielt die Zeichnung hoch und fragte, ob sie den Mann gesehen hätten. Boris sah zu, wie Pawlow einem nach dem anderen ansprach, und spürte, wie das Grauen zurückkam. Als hätte es im Boden gelauert, in den feuchten dunklen Steinen, kroch es seine Beine hoch, fraß sich in seinen Brustkorb, erreichte Herzhöhe und sein Herz begann verzweifelt schneller zu schlagen. Als wolle es fliehen, fortrennen – doch es kam nicht vom Fleck.
»Warum gehen sie nicht fort?«, stieß Boris aus. »Die Türen sind doch offen!«
Pawlow senkte die Taschenlampe, drehte sich zu ihm um. Boris wurde schwindlig.
»Setz dich.« Pawlow stand plötzlich neben ihm, lotste ihn zur Treppe und drückte ihn sanft auf die Stufen. Boris setzte sich. Das war besser. Seine Beine zitterten so stark, er bezweifelte, dass sie ihn getragen hätten.
»Um das herauszufinden, habe ich studiert«, sagte er, während er nach Boris‘ Handgelenk griff und seinen Puls fühlte.
»Ich bin kein Soldat mehr.« Boris fragte sich, warum er Pawlow das erzählte.
»Ja.« Pawlows Stimme war leise. Nicht sanft oder mitfühlend, nur leise. »Und die Tür steht offen. Doch es ist nicht immer leicht, diese Tür zu finden. Und man muss zudem den Schritt hinaus wagen, ohne zu wissen, was einen dort erwartet, ob es auf der anderen Seite besser ist.«
Boris glaubte zu begreifen, was die Worte bedeuteten. War seine Halluzination die Tür? Das Licht, das ihm den Weg wies? Das Glück, das auf der anderen Seite wartete? Oder lauerten dort nur die Stimmen, Erinnerungen, begierig drauf, Gestalt anzunehmen, um ihn mit dem zu konfrontieren, was er als Soldat getan hatte?
»Ich habe getötet.«
»Ja«, erwiderte Pawlow. »Dazu werden Soldaten im Allgemeinen benutzt.«
»Nicht nur Feinde. Auch Frauen. Kinder.«
Er lauschte in sich hinein. Jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, wäre da der Damm gebrochen? Die Erinnerungen aus ihrem Gefängnis, ihrem Keller, befreit, in dem sie das Vergessen unter Kontrolle gehalten hatte? Seltsamerweise spürte er für den Augenblick nur eine große, erleichternde Leere.
Pawlow schwieg. Hinter ihm, im Kellergang, wankten die blassen Gestalten über den feuchten Boden. Eine Stimme aus dem Dunkel sagte: »Deine Schuld ist nicht größer als die derjenigen, die den Krieg begonnen haben und sich weigern, ihn zu beenden.«
Pawlow starrte seine Finger an, als hätte er vergessen, dass er Boris‘ Puls fühlte und sich nun fragte, was er da tat. Er gab Boris‘ Handgelenk frei und richtete sich auf.
»Ich muss weiter nach dem Doppelgänger suchen.«
»Er ist kein Doppelgänger«, sagte Boris. »Er ist ein Zeitzwilling.«
»So, ist er das?«, erwiderte Pawlow abweisend.
Boris wusste, er glaubte ihm nicht, maß seinen Worten nicht mehr Bedeutung bei als dem Gebrabbel eines Schwachsinnigen, eines Idioten, der in einem Keller gefangen war, weil er den Weg hinaus nicht fand. Sein Leben lang hatte man ihn Idiot genannt, diese Bezeichnung verfolgte ihn sogar länger als Glücksfresser. Vielleicht sollte er einfach aufgeben und akzeptieren, dass sie recht hatten, wenn sie ihn für schwachsinnig hielten. Vieles wäre dadurch einfacher. Auch die Vergangenheit. Er wäre kein Monstrum, sondern einfach ein Idiot.
»Was weißt du von Zeitzwillingen?«, fragte die Stimme aus dem Dunkel. Sie klang schwach, doch sie sprach klar und deutlich, anders als die Stimmen, die er sonst hörte. Es konnte daran liegen, dass er sich damit abgefunden hatte, dieses Gefängnis nie zu verlassen.
»Ich war dabei, als es passiert ist«, antwortete Boris, »sah, wie sich der Zar verdoppelte. Die Wissenschaftler sind schuld, sie haben das Kontinuum kaputt gemacht. Sie haben eine Zeitmaschine gebaut. Der Zar wollte, dass ich sie zerstöre. Ich habe sie nicht rechtzeitig genug gefunden.«
Pawlow hörte ihm nicht zu, er drang tiefer in das Gefängnis vor, leuchtete in die offenen Zellen, sprach einen Mann an, der mit gekrümmten Rücken in einer Ecke stand, das Gesicht zur Wand.
»Wie heißt du?« Pawlow hielt das Bild hoch, richtete die Taschenlampe darauf. »Hast du diesen Mann gesehen? Ist er hier?«
Ohne Vorwarnung fuhr der Mann herum, sprang Pawlow an. Die Taschenlampe flog durch die Luft, schlug scheppernd aus dem Boden auf und erlosch. Röchelnd schrie Pawlow auf. Pawlow lag auf dem Boden, der Mann über ihm, die Zähne in Pawlows Gurgel. Boris handelte aus reinem Reflex, packte den Angreifer im Nacken, zwang mit der anderen Hand dessen Kiefer auseinander und riss ihn von Pawlow fort. Der lag keuchend auf dem Rücken, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, mit den Händen ängstlich nach seinem Hals tastend. Etwas Blut war zu sehen, nicht viel, Schlimmeres hatte Boris verhindern können. Schlimmeres? Boris sah den Angreifer an, ein Idiot, gefangen in einem Kerker, dessen Türen offen standen. Genauso gefangen wie er selbst. Vielleicht existierte der Mann gar nicht, war nur ein Trugbild, um ihm zu zeigen, man konnte Idiot und Monstrum sein. Der Mann hing teilnahmslos in Boris‘ Umklammerung, lächelte dümmlich und schien sich in einer Welt zu befinden, die niemand außer ihm wahrnehmen konnte.
»Danke«, sagte Pawlow heiser und rappelte sich hoch. »Das war knapp.«
»Meistens ist er harmlos, doch manchmal hat er diese Anfälle.« Im Dunkel, aus dem die Stimme kam, bewegte sich etwas.
»Meistens ist er harmlos«, wiederholte Boris erschüttert. Meistens. Meistens reichte nicht. Er ließ den Mann los, der sich wieder in die Ecke stellte, als wäre nichts gewesen. Wahrscheinlich wäre dass es das Beste für die Welt, für alle Frauen und Kinder, wenn er diesen Keller nie wieder verlassen würde. Es war lange her, seit er Unschuldige getötet hatte, nicht seitdem er kein Soldat mehr war, nicht als Blauer Krieger. Meistens war er harmlos. Meistens war nicht genug.
Im Dunkel raschelte es. Die Stimme nahm die Gestalt eines dünnen, blassen Mannes an. Die Gestalt machte ein paar Schritte auf ihn zu.
»Darf ich mir das mal ansehen?« Das Trugbild deutete auf den künstlichen Arm.
Kraftlos senkte Boris den Kopf, das Trugbild kam noch näher, blieb dicht vor ihm stehen und starrte fasziniert und mit einem bitteren Lächeln in das Innere der Mechanik.
»Wer hat das gebaut?«
»Der Teufel.«
»Welcher Teufel? Es gibt einige.«
»Magister Karelius.«
Das Trugbild fuhr sich über das unrasierte Kinn.
»Ich habe von ihm gehört, aber Äthermanipulation ist nicht sein Spezialgebiet. Kennst du einen Anthony Tachyon?«
Er warf dem Trugbild einen Blick aus den Augenwinkeln heraus zu und fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, herauszufinden, was real war. Bildete er sich den Mann ein oder war er echt?
»Ja«, antwortete er. »Ein Teufel hieß so.«
Inzwischen war Pawlow zu ihnen getreten und folgte dem Gespräch interessiert, wenn auch verwirrt.
»Wovon redet ihr?« Er erinnerte sich an seinen Auftrag, »Guten Tag, ich bin Iwan Pawlow, ich suche nach einem Mann …«
»Der dem Zaren von Russland zum Verwechseln ähnlich sieht. Ja, das habe ich mitbekommen und nein, er ist nicht hier.«
»Könnte es sein, dass er geflohen ist, als die Türen geöffnet wurden?«
»Nein. Ich bin seit einem Jahr hier. Plus minus ein paar Monate. Man verliert jegliches Zeitgefühl. In der ganzen Zeit habe ich niemanden gesehen, der Zar Nikolaus II. ähnelte.«
»Warum bist du nicht gegangen?«, fragte Boris.
»Ich habe den Zeitpunkt verpasst. Als die Krankenschwester die Türen aufgebrochen hat, lag ich mit schwerem Fieber ans Bett gefesselt. Sie hat rausgeholt, wen sie konnte, nur ich vermochte es nicht, mich bemerkbar zu machen. Später habe ich es versucht. Doch da waren schon überall Soldaten. Ich wollte weder der einen noch der anderen Seite in die Hände fallen. Und da es oben noch einen Arzt gibt, der uns, so gut es geht, mit Essen und Wasser versorgt, hielt ich es für das Sicherste, auszuharren und auf eine glückliche Wendung des Schicksals zu hoffen. Mir scheint, sie hat sich gerade ergeben.«
Boris berührte den dünnen Mann vorsichtig an der Schulter. Er fühlte sich echt an, doch das war kein Beweis. Was hatte er von der Krankenschwester gesagt?
»Wassilisa«, sagte er so vorsichtig, als könne eine zu heftige Bewegung seiner Lippen, ein scharfer Zungenschlag die Bedeutung dieses Namens zerstören.
»In der Tat, so hieß sie.«
»Ist sie fort?«
»Natürlich. Ich nehme es zumindest an. Sie wird Perm verlassen haben, bevor die Armeen eintrafen.«
Boris war enttäuscht und erleichtert zugleich. Er sah den Gang entlang, dort wo die Treppe in die Freiheit im Dunkeln verborgen lag. Meistens harmlos. Vielleicht erwiese er der Welt einen Dienst, wenn er diesen Keller nie wieder verließe, doch der Wunsch, seine Halluzination wiederzusehen, war stärker als alles andere und er wusste, egal, vor welche Entscheidungen ihn das Schicksal noch stellen würde, sie fielen immer zugunsten von Olga aus. Nur Pawlow wirkte unzufrieden.
»Ich hatte so gehofft, den Doppelgänger hier zu finden.«


Olga
Es war nicht leicht, Eriks wachsamen Blicken zu entwischen. Als er Boris versprochen hatte, immer ein Auge auf sie zu haben, war es keine Übertreibung gewesen. Zum Glück war Wassilisa aufgetaucht und hatte beschlossen, erst am Mittag aufzubrechen. An Papier und Stifte zu kommen, stellte für Olga kein Problem dar. Erik war so beschäftigt damit, bei Wassilisa einen guten Eindruck zu hinterlassen, dass er den Verlust dieser Karte, ein hässliches Bild, auf dem man gar nichts erkennen konnte, nicht bemerkte. Sie suchte sich eine Ecke, in der sie unbeobachtet war, und begann mit dem Brief für Boris. Da es wenig Sinn hatte, ihm zu schreiben, malte sie ihm ein Bild. Die entscheidenden Informationen waren einfach: Das Luftschiff, daneben Erik, Wassilisa und sie, gut zu erkennen und zu unterscheiden durch einen schwarzen Bart, einen langen Zopf und Olgas Mütze. Dreiecke für das Gebirge und auf der anderen Seite Boris, einen Arm aus Zahnrädern. Damit war das Grundlegende klar, aber wie zeichnete man die wichtigen Sachen: Dass sie Boris schrecklich vermisste, dass es ihr leidtat, ihn auf diese Suche geschickt zu haben und er ihr nicht böse sein solle? Schließlich skizzierte sie in eine Ecke ein Haus zwischen zwei Bäumen, davor einen See, und als Letztes Boris und sich selbst, sie auf seinem Arm sitzend.
Der See war ihr nicht gut geraten und zwei Bäume waren etwas dürftig für einen Wald, dafür war ihre Zeichnung von Boris und ihr gut gelungen. Kein Zweifel, er würde verstehen, was sie ihm damit sagen wollte. Anschließend faltete sie den Brief, schrieb außen in großen dicken Buchstaben, damit man sie trotz des Gekrakels von Eriks Karte gut lesen konnte: BORIS. Sie versteckte den Brief in ihrem neuen Mantel, kroch aus dem Versteck und sah sich um. Erik war damit beschäftigt, Wassilisa die Himmelstänzerin zu zeigen. Wassilisa versuchte, sich ein amüsiertes Lächeln zu verkneifen. und hörte darüber hinaus aufmerksam zu. Auf Olga achteten sie im Moment beide nicht. Heimlich schlich sie von Bord.
Der Schalter in der Empfangshalle war verlassen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Klingel zu betätigen, so wie Erik es getan hatte. Kurz darauf erschien der Mann, für den Erik die Formulare ausgefüllt hatte. Der zuvorkommende Gesichtsausdruck verschwand, als er erkannte, wer geklingelt hatte, trat jedoch hinter den Schalter und fragte: »Ja? Was gibt es?«
»Ich möchte das als Telegramm wegschicken«, sagte sie und schob ihren Brief über den Tresen. »Ist es sehr teuer? Kapitän Erik leiht mir sicher etwas Geld.«
Missgelaunt zog er den Brief zu sich heran und faltete ihn zu Olgas Empörung auf. Wie kam er dazu, ihren Brief an Boris zu lesen? Da Olga kein Geld dabei hatte und hoffte, der Mann ließe sich darauf ein, dass Erik später bezahlte, beschwerte sie sich nicht. Anscheinend half es, über sein Gesicht zuckte ein trauriges Lächeln.
»Das kann ich nicht telegrafieren.«
Jetzt wollte sie sich doch beschweren, allerdings war an Bord der Himmelstänzerin ihre Abwesenheit bemerkt worden.
»Olga! Olga!«, schrien Erik und Wassilisa.
Die taten ja so, als wäre sie wer-weiß-wie-lange fort gewesen, um wer-weiß-was zu tun.
»Sie ist hier!«, verriet der Beamte sie und gab ihr ihren Brief zurück.
Erik kam hereingestürmt, dicht gefolgt von Wassilisa.
»Olga!«, donnerte Erik. Er wirkte nicht direkt wütend, doch aufgebracht, und starrte sie warnend an.
»Du sollst doch nicht weglaufen! Was haben wir be…« Mitten im Wort brach er ab und riss seine Augen noch weiter auf.
»Das kann nicht wahr sein! Meine Karte! Was hast du …« Er schien so fassungslos zu sein, dass er auch diesen Satz nicht zu Ende bringen konnte.
»Sie wollte einen Brief als Telegramm verschicken«, sagte der Beamte und es klang so, als nähme er Olga in Schutz. »Sie hat ihn … gemalt.«
Eriks Wut verrauchte, seine Blicke wanderten verständnislos zwischen dem Mann und Olga hin und her.
»Ach Kleines«, seufzte Wassilisa und ging vor ihr in die Hocke. »Man kann keine Bilder telegrafieren, nur Wörter.«
»Aber Boris kann doch nicht lesen.«
»Und selbst wenn, er käme in einer Telegrafenstation an. Man müsste Boris erst finden, um ihm dein Bild zuzustellen. Die wissen doch nicht, wo er ist.«
Bekümmert drückte Olga ihren Brief gegen die Brust.
»Zeig mal, was hast du ihm denn gemalt?«
»Himmel, meine beste Karte«, jammerte Erik. »Ich muss dem Kind dringend Papier kaufen.«
»Kaufen Sie lieber eine neue Karte«, scherzte Wassilisa, als die das Blatt entfaltete. »Das hier ist jetzt ein Brief für Boris. Aber Sie haben recht, kaufen Sie auch Papier, vielleicht malt sie Ihnen ebenfalls ein Telegramm.«
Wassilisa betrachtete die Zeichnung und ganz langsam verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. War das Bild denn so schlecht? Wassilisa war eine echte Künstlerin, von ihr stammten die Zeichnungen für die Flugblätter, die sie damals beim Arbeiterbund heimlich gedruckt hatten. Den Zaren konnte Wassilisa besonders gut zeichnen, deswegen hatte Olga ihn auch fast sofort erkannt, als sie im Winter zufällig über ihn gestolpert war. Olgas Figuren waren nur unförmige Strichmännchen, aber schließlich hatte sie nicht viel Übung. Als Wassilisa mit den Fingern über die Zeichnung strich, auf der Boris Olga auf dem Arm trug, trat ein feuchter Schimmer in ihre Augen.
»Wer einen solchen Brief bekommt, kann kein schlechter Mensch sein«, sagte sie leise, dann schien sie sich einen Ruck zu geben, das Lächeln erschien wieder, sie gab Olga das Bild zurück und stand auf.
»Kapitän, ich habe meine Pläne geändert und reise erst morgen ab. Heute werde ich mit Olga in die Stadt gehen und einkaufen.«
Erik setzte ein erfreutes und zugleich wissendes Grinsen auf.
»Hübsche Kleider.«
»Papier!«, widersprach sie. »Das schont Ihre Nerven.« Zu Olga sagte sie: »Und du kannst mir von Boris erzählen. Zum Beispiel, wie ihr zueinandergefunden habt.«
»Ich begleite die Damen natürlich.«
»Aber Kapitän«, erwiderte Wassilisa verschmitzt, »langweilen Sie sich denn nicht, wenn wir Frauengespräche führen?«
»Es ist zu Ihrem Schutz. Die Front ist nicht weit entfernt, wer weiß schon, was für Gesindel sich hier herumtreibt.«
»Oh, das ist natürlich etwas anderes. Na, dann beschützen Sie uns zwei hilflose Frauen mal schön.«
Erik runzelte die Stirn.
»Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich Boris versprochen, Olga nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ich bin mir nicht sicher, wie wörtlich er das genommen hat.«
Bevor sie in die Stadt aufbrachen, mussten sie zur Himmelstänzerin zurück. Erik wollte seine Unterlagen wegräumen und das Luftschiff verschließen, und Olga bestand darauf, eine Nachricht zu hinterlassen, für den Fall, dass Boris während ihrer Abwesenheit von seiner Suche zurückkäme. Olga bat Wassilisa, das Bild zu malen, da sie es viel besser könne, doch Wassilisa lehnte ab, Boris würde sich mehr darüber freuen, wenn es von Olga stammte, und so zeichnete sie wieder Erik, Wassilisa und sich, umgeben von ein paar Häusern, und etwas abseits das Luftschiff.
»Glaubst du, er versteht das?«, fragte sie und schob Wassilisa das Blatt zu, in diesem Fall die Vorderseite von Wassilisas Frachtschein.
»Ich denke schon.«
»Mal ihm auch was«, bat Olga. »Er ist so weit gelaufen, nur um dich zu suchen. Vielleicht erkennt er dich auf meinem Bild gar nicht.«
Nach kurzem Zögern fing Wassilisa an zu zeichnen. Olga verfolgte staunend, wie die Striche auf dem Papier zu einem Gesicht wurden.
»Du hast Boris gemalt«, stellte sie bewundernd fest. »Es sieht ihm sogar ähnlich. Jetzt erkennt er auf jeden Fall, dass die Nachricht für ihn ist. Woher weißt du überhaupt, wie er aussieht? Du hast ihn in Perm nur ganz kurz gesehen, das hat schon gereicht?«
»Hat er dir nicht erzählt, dass wir uns kennen?«, fragte Wassilisa.
»Er redet nicht viel. Also nicht mit Worten.«
Wassilisa lachte. »Stimmt, so habe ich ihn auch in Erinnerung.«
»Woher kennst du ihn?«
»Das erzähle ich dir beim Einkaufen, lass uns losgehen.«
Erik wartete bereits vor dem Luftschiff. Als Olga und Wassilisa nach draußen kamen, bot er Wassilisa seinen Arm an, damit sie sich bei ihm einhake. Sie schaute in eine andere Richtung und schien es nicht zu bemerken, so nahm er stattdessen Olga bei der Hand und schritt mit glücklichem Gesichtsausdruck und stolzgeschwellter Brust über das Flugfeld auf die Stadt zu. Wassilisa presste ihre Hand auf den Mund, um ein Grinsen zu verbergen.
»Kapitän …«, begann sie, als sie die Hälfte des Flugfeldes überquert hatten.
»Erik«, unterbrach er sie. »Für meine Freunde heiße ich Erik.«
»Also gut, Erik. Wie ernst war es dir, als du meintest, zur Not würdest du auch Leute ohne Erfahrung anheuern, solange sie kräftig zupacken können?«
»Sehr ernst.« Er seufzte. »Auf lange Sicht geht es nicht ohne erfahrenen Piloten oder Navigator, doch mit ein paar kräftigen Männern wäre mir weitergeholfen. Dann hätte ich wenigstens jemanden für die An- und Ablegemanöver. Wer nicht auf den Kopf gefallen ist, lernt das schnell. Aber wenn du wüsstest, was bei mir vorstellig geworden ist, Alte, Kranke, Kinder, der kleinste Sturm hätte sie umgeweht. Wie ernst war es Ihnen … war es dir damit, als du meintest, du könntest eine Mannschaft für mich auftreiben?«
»Auch sehr ernst«, Wassilisa drehte den Kopf weg, musterte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont. Es war ein strahlend schöner Vormittag, die Sonne blendete. »Ich kann dir eine Mannschaft besorgen. Keiner von ihnen hat jemals ein Luftschiff betreten, aber zupacken können sie. Sie sind an schwere Feldarbeit gewohnt und wer einen brunftigen Bullen auf die richtige Kuh lotsen kann, der dürfte auch ein Luftschiff an einem Ankermast vertäuen können.«
Eine leichte Röte stieg in Eriks Wangen.
»Ausgezeichnet. Genau solche Männer suche ich. Wie viele kannst du finden?«
»Wie viele brauchst du?«
Erik überlegte.
»Vier«, antwortete er, »für den Anfang. Wenn ich mein Geschäft erweitern kann, zwei mehr.«
»Die Leute, an die ich denke, wohnen auf entlegenen Berghöfen, sie wären Tage hierher unterwegs, müssten ihr Hab und Gut verkaufen, nur um bei dir anzuheuern. Bist du dir sicher, dass du es dir nicht im letzten Moment anders überlegst? Man erzählt sich von euch Luftschiffern, dass ihr … schwierig … seid.«
Erik prustete entrüstet. »Ich werde es mir nicht im letzten Moment anders überlegen, wenn sie zupacken können und nicht zimperlich sind, sind sie angeheuert.«
»Und was zahlst du ihnen?«
»Ich habe meine Mannschaft immer anständig bezahlt. Ich kann mir keine Heuer leisten wie die großen Linien, aber meine Männer hatten nie einen Grund zur Klage. Eine feste Heuer und einen Anteil am Gewinn.«
»Und du wirst meinen Leuten nicht weniger zahlen, zum Beispiel weil sie keine Erfahrung haben oder aus welchem Grund auch immer?«
»Den üblichen Anteil am Gewinn, im ersten Monat die halbe Heuer, bis sie eingearbeitet sind, danach die volle – und keinen Rubel weniger.«
»Abgemacht!« Wassilisa schmunzelte, hielt Erik die Hand hin. Erik ließ Olga los und schlug ein.
»Abgemacht! Wir sind im Geschäft.«
Erik strich sich über den Bart und wollte Olga wieder bei der Hand nehmen, doch diesmal hakte sich Wassilisa bei ihm ein. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, allerdings nicht so breit wie Wassilisas, die erneut einen unsichtbaren Punkt am Horizont betrachtete.
»Was für ein herrlicher Tag«, sagte sie und klang außerordentlich vergnügt.
Bevor sie die ersten Häuser von Jekaterinburg erreichen, ließ Wassilisa Eriks Arm los, nahm stattdessen Olga bei der Hand. Sie schlenderten durch die Straßen, kamen in die Innenstadt, wo sich ein Ladengeschäft an das andere reihte. An einigen Schaufenstern lief Wassilisa vorbei, schaute flüchtig in die Auslagen, erst vor dem Laden eines Hutmachers blieb sie stehen. Die Geschäfte des Hutmachers mussten gut gehen, während der Verkäufer mit einer Kundin beschäftigt war, warteten zwei andere darauf, bedient zu werden.
»Hier möchte ich rein«, sagte sie strahlend und drehte sich zum Kapitän um. »Würde es dir etwas ausmachen, draußen zu warten? Ein Hutkauf ist eine Sache, bei der eine Dame gerne alleine ist, wo ein Händler der einzige Mann ist, der geduldet wird. Ich hoffe, es dauert dir nicht zu lange.«
»Nein, natürlich macht mir das nichts aus«, erwiderte Erik großzügig.
»Ein paar Häuser weiter ist ein Schreibwarengeschäft. Vielleicht magst du in der Zwischenzeit das Papier für Olga kaufen.«
»Selbstverständlich, sehr gerne. Meine Buchführung und meine Nerven werden davon profitieren. Sonst noch etwas?«
»Ein paar Vorräte?«, bat Olga schüchtern. »Für Sibirien. Aber ich habe kein Geld.«
»Gar keine Frage. Ich will doch nicht, dass du hungern musst.«
»Du bist ein Schatz«, sagte Wassilisa zu ihm. »Komm Olga, wir gehen jetzt Hüte anschauen.«
Eine kleine Glocke ertönte, als sie den Laden betraten. Der Verkäufer schaute auf.
»Ich bin untröstlich, meine Damen, Sie werden warten müssen. Bitte sehen Sie sich solange um. Ich führe ein paar sehr exquisite Modelle, europäischer Stil. Ich kümmere mich um Sie, sobald ich frei bin.«
»Nur keine Eile, wir schauen uns solange ihre exquisiten Modelle an.«
Als der Mann wieder mit der ersten Kundin beschäftigt war, zog Wassilisa Olga unauffällig beiseite und ging vor ihr in die Hocke.
»Jetzt erzähl mir erst einmal, wie du damals der Ochrana entkommen bist. Ich dachte, du wärst tot, sie hätten dich wie die anderen erwischt und zu Tode geschleift. Ich war so furchtbar traurig. Warst du denn nicht oben in der Kammer?«
»Ich hab mich rausgeschlichen«, sagte Olga kleinlaut.
»Du wusstest doch, dass du das nicht machen solltest.«
»Ich war Essen besorgen, weil … ich … ich hab das letzte Brot aufgegessen und dachte … du bist vielleicht böse auf mich. Dann noch mit den vielen Genossen im Haus. Die waren ja auch immer hungrig. Und wenn sie dann hätten Brot haben wollen und es wäre keines mehr da gewesen …«
»Auch dann hättest du Bescheid sagen sollen, damit …« Wassilisa brach ab. »Du wolltest es stehlen!«
»Ich hatte ja kein Geld.« Olga schmollte.
»Ach Kleines«, seufzte Wassilisa und nahm sie in die Arme.
»Außerdem«, fuhr Olga trotzig fort, »hab auch ich gedacht, du wärst tot. Und ich war bestimmt noch viel trauriger. Ich … ich hatte ja sonst niemanden und wusste nicht, dass ich Boris finden würde.«
»Da hast du recht«, sagte Wassilisa, schob Olgas Mütze ein klein wenig hoch, damit sie sie auf die Stirn küssen konnte. »Ich habe auch nicht Bescheid gesagt, dass ich das Haus verlasse. Weißt du, an diesem Tag habe ich erfahren, dass mein Mann noch lebt, dass ihm die Flucht gelungen ist und er sich vor Perm im Wald versteckt. Er hat mir einen anderen entflohenen Sträfling geschickt, einen Schauspieler, verurteilt wegen Majestätsbeleidigung, der hat mich zu ihm geführt. Radik hat mich begleitet. Auch er meinte, er müsse mich beschützen. Ein Glück. Sonst hätten sie auch ihn getötet.«
»Ich bin dir nicht böse.«
»Ich dir auch nicht, Liebes. Und dann hast du Boris getroffen?«
»Erst im nächsten Winter. Er war ganz von Schnee bedeckt und ich dachte, er wäre erfroren. War er aber nicht. Wenn es ganz kalt ist, kann er sich nicht bewegen. Dann haben ihn Aasgeier gefunden und wollten ihn auseinanderschrauben. Ich habe ihn gerettet. Aber dann wurden wir getrennt und die Aasgeier haben mich verschleppt. Zuerst musste ich in einem Bergwerk arbeiten, Boris kam, doch bevor er mich befreien konnte, hat mich Johann – das ist der Anführer der Aasgeier, weißt du? – ins Blausteinlager geschickt. Da ist es ganz schlimm. Die Menschen werden krank. Ihnen wachsen blaue Steine in den Brustkörben, die platzen auf und daran sterben sie. Ich war schon ganz, ganz verzweifelt, doch dann ist Boris gekommen. Er hat die Homunkel-Dämonen besiegt, alle befreit und mich gerettet. Seitdem passen wir aufeinander auf. Ich auf ihn und er auf mich. Und wir gehen nach Sibirien, da wird ihn niemand finden. Es wollen ihn nämlich alle auseinanderbauen.«
»Das ist eine sehr schöne Geschichte«, sagte Wassilisa weich. »Ich habe mir vollkommen unbegründet Sorgen gemacht, er würde sich nicht gut genug um dich kümmern. Jetzt bin ich dir noch die Geschichte schuldig, wie ich Boris kennengelernt habe. Weiß du von dem geheimen Lazarett, in dem sie ihm das mit dem Arm angetan haben? Du musst auch da gewesen sein. Du hattest Dinge von dort gestohlen. Einige davon haben wir verkauft, um eine Druckerpresse für die Flugblätter kaufen zu können.«
Olga nickte.
»Ich war Krankenschwester dort. Nicht oben, wo sie die Versuche gemacht haben, sondern unten, wo man die Soldaten gesund pflegte, damit sie die Torturen überstünden. Ich war seine Krankenschwester. Damals habe ich mich um ihn gekümmert.«
Olga kuschelte sich in ihre Umarmung, sie war auf einmal sehr traurig und wusste nicht genau, warum.
»Hast du ihn gern gehabt?«
»Ja, ich hatte ihn gern. Ist es so wichtig für dich?«
»Ja«, Olga schniefte. »Weil … es hat ihn nie einer gern gehabt. Das ist gemein. Ich weiß, wie das ist, wenn einen keiner lieb hat. Deswegen will ich, dass alle Boris mögen. Vielleicht ist er dann nicht mehr so traurig. Viele denken, er guckt grimmig, doch das stimmt nicht. Er ist traurig. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, haben sie auch diese Sachen mit ihm gemacht, das blaue Licht, den falschen Arm, weißt du? Er ist ganz unglücklich damit. Er sagt es nie, aber ich weiß es.«
Olga fing an zu weinen und als sie merkte, dass Wassilisa ebenfalls Tränen über die Wangen liefen, schluchzte sie laut auf. Der Verkäufer drehte sich zu ihnen um.
»Kann ich Ihnen helfen? Ist was nicht in Ordnung?«
»Nein«, sagte Wassilisa laut zu Olga. »Dieser Hut ist viel zu teuer. Den können wir nicht kaufen.«
Sie erhob sich, ging mit Olga in eine andere Ecke des Ladens, und tat, als betrachte sie einen kleinen grünen Hut.
»Er hat dich auch gern gehabt, oder?«, fragte Olga hoffnungsvoll.
Anstatt zu antworten, schloss Wassilisa die Augen.
»Es ist gut, dass du bei Boris bleiben willst«, sagte sie nach einer Weile heiser. »Dann ist er wenigstens nicht allein.«
»War er da auch schon so traurig?«
»Ich denke ja.« Ein schiefes Lächeln zuckte über Wassilisas Gesicht. »Viel geredet hat er damals auch nicht. Hat er wahrscheinlich noch nie. Aber er war so dankbar für jede kleine Freundlichkeit, die man ihm erwies, dafür, Essen zu bekommen, in einem richtigen Bett zu liegen, dass man mit ihm sprach, auch wenn er den Eindruck erweckte, er würde nicht zuhören.«
»Aber er hört zu. Er hat mich einmal gefragt, wie ein Märchen ausgeht, das ich Wochen zuvor erzählt habe. Boris hört ganz genau zu. Viel mehr als andere, die nur so tun als ob.«
»Es gibt solche Menschen«, seufzte Wassilisa. »Sie haben es schwer im Leben, weil sie anders sind, weil niemand sie versteht. Man hält sie für dumm oder einfältig.«
»Boris ist nicht dumm!«, entrüstete sich Olga laut, der Verkäufer drehte sich erneut nach ihnen um.
»Nein, das ist er nicht. Weißt du, Kleines, mein Mann …« Wassilisa verstummte, wurde von der einen Sekunde zur anderen aschfahl. »Ich brauche frische Luft.« Sie stürmte nach draußen, der Verkäufer rief ihnen hinterher, aber sie reagierte nicht.
»Erzähl mir von Gregory«, bat sie zitternd. »Aber nicht, wie er angeschossen wurde. Erzähl mir etwas Schönes. Wie ihr ihn kennengelernt habt.«


 

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Wiedersehen in Perm