Das Universum existiert noch
Eine Woche nachdem Boris die Welt gerettet hat, reist er mit Olga an Bord von Eriks Luftschiffes nach Cöln. Bei ihm sind Nikola Tesla, der versprach, etwas für Boris zu erfinden, was die Nebenwirkungen des Umbaus zum Blauen Krieger abzumildern – und Wassilisa. Wassilisa fährt nach Cöln, um sich um sich um ihren Mann zu kümmern.
Alltag und Unterwelt
Yegor wird in ein Sanatorium gebracht. Noch in der gleichen Nacht ereignet sich dort eine Explosion. Boris versucht herauszufinden, was mit seinem Freund passiert ist. Die Homunkel, die das Sanatorium betreiben, geben sich hilfsbereit, was Boris misstrauisch werden lässt. Gleichzeitig machen ihm die Fährnisse eines zivilen Alltags zu schaffen. Sie brauchen Geld und er lässt sich überreden als Türsteher des Salons zu arbeiten. Wassilisa besteht darauf, dass Olga eine Schule besucht. Währenddessen verschwinden Kinder. In der Schule ist Olga scheinbar in Sicherheit. Und immer wieder führen alle Spuren zu dem Sanatorium …
Auszug: 1. Kapitel
Boris Sergejewitsch dürfte zu Recht Dankbarkeit vom Universum erwarten, denn vor vierzig Jahren – oder sieben Tagen, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtete – hatte er Zeit und Raum davor bewahrt, sich zu liquidieren und nie existiert zu haben. Als altgedienter Soldat des Zaren und Veteran des Krimkrieges wusste er, mit Anerkennung konnte er nicht rechnen; das Schicksal würde ihm selbst seinen kleinen Anteil vom Glück streitig machen.
Nebenfiguren
Mit jedem Band wachsen den Lesern auch die Nebenfoguren immer mehr ans Herz, während andere sich alle Sympathien verscherzen, weil sie sich von ihrer schlechtesten Seite zeigen.
Milla
Milla ist eine Figur, aus der Serie "Guy Lacroix" von Simone Keil. Es ist ihre unbekümmerte Art, mit der Boris gut zurechtkommt und sie sie auch bei den Leseinnen und Lesern beliebt machte.
Yegor
Yegor war von Anfang an dabei, vom 1. Kapitel des 1. Bandes an. Da konnte noch niemand – auch die Autorin nicht – ahnen, welche wichige Rolle er einmal spielen würde.
Erik
Der brummige Luftschiffkapätän hatte seinen ersten Auftritt in "Der Zeitmaschine des Arabers" und hätte um ein Haar einen frühen Tod gefunden, wenn Olga nicht eingeschritten wäre. Spätestens im "Im Plan der Zeit" hatte er eine eigene kleine Fangenmeinde.
Nikola Tesla
Soweit möglich und Quellen zur Verfügung standen, versuchen die fiktivern Figuren ihren historischen Vorbildern gerecht zu werden. Und so ist auch der fiktive Nikola Tesla ein begnadeter Erfinder, der zum Wohle aller Menschen seine Forschungen betreibt. Damir konnte er nichtnur die Leser, sondern auch Boris überzeugen, dessen Abneigung gegenüber Quantenmagiern sehr tief sitzt.
Leseprobe
9. Kapitel
Blaubarts Hinterhalt
Boris
Sie hatten den Ort für den Hinterhalt gut gewählt: Die Passage bot Boris keinerlei Deckung und erst recht keine Möglichkeit zur Flucht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen und zu hoffen, wehrhaft zu wirken. Offensichtlich nicht wehrhaft genug, seine Widersacher wagten sich aus ihren dunklen Ecken und traten ihm in den Weg. Die Kragen hochgeschlagen und die Hüte tief ins Gesicht gezogen. Mund und Nase hinter Tüchern versteckt. Was sie nicht versteckten, waren ihre Luftschiffer-Uniformen. Einer der Männer war groß. Größer als Boris. Blaubart und seine Offiziere mussten ihn für sehr dumm halten. Langsam setzten sich die drei in Bewegung. Blaubart war eindeutig auf Ärger aus und Boris überlegte, wie er diesen vermeiden konnte. Mit ein wenig Glück könnte er einen Treffer landen, wenn es ihm gelang, schneller zu sein, und was ihm an Kraft fehlte, müsste er durch Masse ausgleichen. Zwei Zentner aus Muskeln und Stahl und – wie Milla richtig bemerkt hatte – er wog mehr. Wenn er den richtigen Zeitpunkt abwartete, könnte er einen von ihnen ausschalten. Nicht umbringen, ihn ernsthaft zu verletzen bot Boris größere Chancen, heil aus der Sache rauszukommen. Eine altbekannte Kriegstaktik, um die Kräfte des Gegners zu binden. Ein Verwundeter bedeutete, ein Kamerad musste sich um ihn kümmern und konnte sich nicht am Kampfgeschehen beteiligen und in Cöln würden seine Schreie die Polizei anlocken und die Halunken vertreiben. Sollte man Boris die Kehle durchschneiden, wäre es um ihn geschehen, so schnell konnte die Quantenmagie die Wunde nicht verschließen, ehe er verblutete und unter Umständen war er auch kein Glücksfresser mehr. Er hatte die Welt gerettet, das Paradoxon aufgelöst. Das Schicksal brauchte ihn nicht länger. Die Kerle kamen näher. Boris hörte weder das verräterische Sirren von Pistolen noch Messer, die gezogen wurden. Wenn es nur um eine Tracht Prügel ging, wäre dies zwar eine unangenehme Erfahrung, aber mehr auch nicht. Luftschiffer mochten sich für harte Kerle halten, doch sie hatten keine Ahnung, wie viel man einstecken konnte, wenn man fünfundvierzig Jahre im Krimkrieg seinen Kopf hinhalten musste. Seine Gegner hatten ihn fast erreicht. Boris winkelte seinen rechten Arm an, die Verkleidung seines Unterarms trat als scharfe Kante hervor. Eine Hauptschlagader auf der Innenseite eines Oberarms wäre eine gute Angriffsfläche. Er verwarf die Idee. Zu geringe Erfolgsaussichten, er könnte die Ader verfehlen. Dann die im Oberschenkel. Weniger günstig, denn der Verletzte könnte bei der Wundversorgung mithelfen. Boris müsste weder schnell sein noch Kraft auswenden, sondern sich lediglich fallen lassen. Sein Körpergewicht würde den Rest erledigen.
»Ohne Mädchen als Verstärkung?«, fragte Boris Kapitän Blaubart. »Oder zählen die beiden als welche?«, er wies mit einem Nicken auf die Offiziere hinter ihm. Damit ließen sich Männer wie die immer provozieren. Wütende Angreifer ließen sich leichter ausschalten. Boris hingegen wäre froh, jetzt Wassilisa als Verstärkung zu haben.
Blaubart holte zum Schlag aus, die Offiziere machten einen letzten Schritt vor, um ihn zu packen und festzuhalten. Boris warf sich nach hinten, ließ sich mit dem Ellenbogen voran fallen. Der Luftschiffer heulte vor Schmerz auf, eine Fontäne Blut schoss Boris ins Gesicht. So schnell es ihm möglich war, rollte er zur Seite, damit er nicht noch unfreiwillig mit seinem Gewicht die Arterie abklemmte. Gleich darauf prasselten Fäuste auf ihn ein, vier an der Zahl. Der Verletzte zappelte in Panik, trat Boris gegen das Kinn. Seine Kameraden kümmerten sich nicht um ihn.
»Ihr müsst die Ader abdrücken«, zischte Boris zwischen den Zähnen hervor, versuchte seinen Kopf zu schützen und die meisten Schläge mit dem Rücken abzufangen.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, schrie der Luftschiffer. »Helft mir! Ich verblute!«
»Du Schwein«, verabschiedete sich der andere Offizier aus den Kampfhandlungen, traf mit seiner Faust Boris’ Hinterkopf und widmete sich anschließend der Lebensrettung. Jetzt schlug nur noch der Kapitän auf ihn ein. Seine Schläge waren trotz seines alkoholisierten Zustandes erstaunlich präzise. Mit Schmerzen konnte Boris umgehen, eine weitere Fähigkeit, die er im Krieg erworben hatte; er schob sie in einen abgelegenen Teil seines Bewusstseins, damit er den Kopf frei hatte. Er versuchte seine Position zu ändern, um in eine gute Ausgangslage für einen Tritt zu gelangen. Wenn seine Beine noch die Kraft hatten, einen Körper voller Metall und Quantenmagie zu tragen, dann sollte es möglich sein, Knochen zu brechen.
»Und du sollst dieser Wunderkerl sein?«, spottete Blaubart. »Du bist der, der sich von einem Mädchen helfen lassen sollte.«
Boris’ Oberlippe schwoll an, aus seinem Mund sickerte Blut Ächzend vor Anstrengung schaffte er es, sich hochzustemmen, um sich gleich wieder zur Seite fallen zu lassen. Blaubart erkannte nicht rechtzeitig, was Boris vorhatte, schaffte es nicht ausweichen, sein Bein klemmte unter Boris’ Hüfte fest und mit einem weiterem Ächzen kam Boris auf dem Rücken zu liegen, drückte Blaubart die Luft aus den Lungen. Leider hatte der Schwung nicht ausgereicht, um ihm ein paar Rippen zu brechen.
»Veyt!«, rief Blaubart nach seinem Untergebenen.
Boris drehte den Kopf, versuchte zu erkennen, wie weit Veyt mit der Wundversorgung war. Leider so gut wie fertig. Das Bein seines Kameraden war abgebunden, der biss die Zähne zusammen, schnaufte wie ein Stier und war kreidebleich.
»Sie sollten dich schnell zu einem Arzt bringen«, sagte Boris. »Sonst überlebst du das nicht.«
Veyt zögerte, entschied sich, seinem Kapitän zu Hilfe zu eilen. Dieser versuchte, Boris von sich zu schieben. Boris hatte in diesem Moment nicht die Kraft, aufzustehen oder Schläge nach hinten auszuteilen, immerhin er konnte sein Gewicht wirkungsvoll verlagern. Schwer atmend, auf die Hiebe und Tritte Veyts wartend, starrte er in den Himmel. Die Fenster der umliegenden Häuser waren dunkel geblieben, nur ein paar Vorhänge bewegten sich. Kein Nachbar fühlte sich genötigt, einzugreifen oder die Polizei zu rufen.
»Die Kindesentführer!«, rief er. Der gewünschte Effekt blieb aus, diesmal stürmte keine erboste Menge auf die Straße. Die Schläge gegen seinen Kopf machten ihn benommen, lenkten seine Gedanken mit unwichtigen Details ab: Weit über den Häusern schwebte ein dunkler Punkt vorbei. Eventuell eine Lerche, obwohl er in Cöln nur wenig Vögel gesehen hatte. Veyt holte aus, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Boris schaffte nicht es, den Angriff mit seinem künstlichen Arm abzuwehren.
»Bringt mich zu einem Arzt«, schrie der Verletzte, robbte näher heran, griff flehend nach Veyts Arm.
»Schaff den Kerl von mir runter.«
Langsam hatte Blaubart raus, was er tun musste, um sich von Boris zu befreien. Gleich würde er es geschafft haben. Veyt schüttelte die Hand seines Kameraden ab und schlug wieder zu. Diesmal verzichtete Boris darauf, seinen Kopf zu schützen. Seinen rechten Arm ließ er fallen und endlich brach ein Knochen: Blaubarts Nasenbein. Mit der anderen Hand griff er nach dem verletzten Offizier, krallte sich im Druckverband fest und riss ihn ein Stück herunter. Erneut schoss Blut aus der Wunde und der Kerl schrie vor Panik. Die Vorhänge wurden hastig zugezogen, damit wollte keiner etwas zu tun haben. Der einsame Vogel drehte eine weitere Runde.
»Dein Freund verblutet«, sagte Boris, vor Erschöpfung keuchend.
»Verdammte Scheiße, Kapitän! Das Arschloch hat recht.«
Blaubart zog sich unter Boris hervor, schob ihn von sich, half mit Tritten nach, um sein anderes Bein freizubekommen.
»Eine Viertelstunde hat er noch«, sagte Boris. »Wenn die Ader sofort abgebunden wird. Besser, ihr kennt einen Arzt in der Nähe.«
Blaubart stand auf, aus seiner Nase rann Blut.
»Wir sehen uns wieder«, stieß er wütend aus, trat Boris in die Seite und half anschließend Veyt, den Verwundeten unter den Armen zu packen und hochzustemmen.
Boris stöhnte erleichtert, bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Er würde hier liegen bleiben, warten, bis er sich so weit erholt hätte, dass er aufstehen konnte. Viel Zeit durfte er sich damit nicht lassen. Olga musste zur Schule gebracht werden. Sie hatte ihm versprochen, nicht allein auf die Straße zu gehen, er wusste nicht, ob sie sich daran halten würde. Möglicherweise würde sie nach ihm suchen, sollte er nicht zurückkehren. Er musterte den Himmel, versuchte die Uhrzeit abzuschätzen. Ein oder zwei Stunden hatte er noch. Er entspannte sich. Der Vogel hatte eine ungewöhnliche Flugbahn, er konnte keine Lerche sein.
Olga
»Wach auf, Liebes, du musst dich für die Schule fertig machen.«
Olga streckte sich und öffnete blinzelnd die Augen.
»Wo ist Boris?«, fragte sie erschrocken, als sie merkte, dass er nicht da war.
»Wahrscheinlich muss er länger arbeiten.«
Enttäuscht schob sie die Unterlippe vor, bis ihr etwas einfiel.
»Dann kann er mich nicht zur Schule bringen. Ich muss also hierbleiben. Hab ich ihm versprochen.«
Wassilisa schüttelte lachend den Kopf.
»Ich bringe dich hin.«
»Aber … aber Boris macht sich Sorgen, wenn er kommt und ich nicht da bin.«
»Mal ihm ein Telegramm«, schlug Wassilisa schmunzelnd vor.
Sie fanden die Schule verschlossen vor. Durch den Torbogen sah man Polizeibeamte auf dem Schulhof. Vor dem Tor hatte sich eine Menschentraube versammelt, Kinder in verschiedenem Alter, ein paar wenige von Erwachsenen begleitet. Sie umringten zwei Lehrer, die angespannt wirkten, als sie versuchten, die Eltern zu beschwichtigen.
»Was ist hier los?«, fragte Wassilisa. »Verstehst du, was sie sagen?«
Olga zog die Schultern hoch. Es ging um verschwundene Kinder, soviel bekam sie mit. Die ganze Aufregung, nur weil sie sich gestern davongeschlichen hatte, um Yegor und Stella zu suchen?
»Ist der dort nicht dein Lehrer?«, fragte Wassilisa.
Olga stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe hinwegsehen zu können. Fast alle Kinder waren größer als sie. Auf dem Schulhof standen Herrmüller und ein Polizist, der in seinem Notizbuch schrieb und Herrmüller mit einem Nicken entließ.
»Ja«, sagte Olga unbehaglich, »aber wir dürfen nicht rein. Gehen wir nach Hause?«
Wassilisa hob eine Hand, winkte, um auf sich aufmerksam zu machen. Herrmüller sah sie und kam auf sie zu.
»Ich glaube, ich habe gestern was angestellt«, gestand Olga, bevor ihr Lehrer sie verpetzen konnte. »Ich bin aus der Schule weggelaufen und habe Yegor gesucht.«
Wassilisa warf ihr nur einen Blick zu, denn Herrmüller hatte sie inzwischen erreicht. Sein Lächeln wirkte nervös, als er etwas zu Wassilisa sagte, ihr die Hand entgegenstreckte, kurz zurückzuckte und sie ihr schließlich wieder hinhielt. Stirnrunzelnd ergriff sie die Hand, schüttelte sie und sagte:
»Tut mir leid, ich spreche kein Deutsch.«
»Ablärespanjool?«
Wassilisa schüttelte den Kopf
»Mluwi tscheski?«
Erleichtert hellte sich ihre Miene auf und sagte etwas, machte eine Geste, als wolle sie Herrmüller etwas sehr Kleines zeigen, was sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Herrmüller schaute sich nervös um, sagte ein paar Worte zu Wassilisa und verschwand im Schulgebäude. Wassilisa wirkte nachdenklich und leicht irritiert.
»Hat er über mich geschimpft?«
»Was? Nein, keine Sorge, Liebes. Ich habe nicht alles verstanden. Es geht um ein Mädchen. Es ist weggelaufen. Ich glaube, er traute sich nicht, mehr zu sagen. Nicht hier. Er will heute Abend mit Boris sprechen.«
»Ein anderes Mädchen als ich? Und man hat es nicht gefunden? Die Eltern sind jetzt bestimmt sehr traurig, oder?«, fragte Olga mitfühlend, denn Boris wäre sehr traurig gewesen.
Erst als Wassilisa antwortete: »Mach dir keine Sorgen, das Mädchen kommt bestimmt wieder«, merkte sie, dass sie bei ihrer Frage nicht an ihre wirklichen Eltern gedacht hatte. Die wären nicht traurig gewesen und hätten nicht nach ihr gesucht. Sie war ja kein echtes Kind, sondern nur ein Soldatenbastard. Aber Boris und Wassilisa hätten Angst um sie und Boris würde nicht aufhören, nach ihr zu suchen. Ganz plötzlich war Olga nach Weinen zumute.
»Ach, Liebes«, sagte Wassilisa sanft, »dem Mädchen geht es bestimmt gut. Es wird sich nur verlaufen haben.« Sie seufzte. »Ich bringe dich jetzt nach Hause. Vielleicht ist Boris schon da und freut sich auf dich. Wir müssen uns beeilen. Ich soll mich heute noch einmal vorstellen. Der Leiter war gestern nicht da. Ich darf nicht zu spät erscheinen.«
Boris
Der merkwürdige Vogel zog weiter seine Kreise am Himmel, bis ein Windstoß ihn davonblies. Boris stöhnte beim Versuch, sich auf die Seite zu rollen, um leichter aufstehen zu können. Um überhaupt aufstehen zu können. Oder wenigstens von der Straße wegzukriechen. Seine Uniform sah furchtbar aus. Er würde ewig brauchen, um Blut und Straßendreck rauszuwaschen. Natalja wäre nicht begeistert. Um ihn herum erwachte die Stadt. Menschen, die sich durch markerschütternde Schmerzensschreie nicht in ihrer Nachtruhe stören ließen, öffneten Fensterläden, verließen die Häuser, um ihrem Tagwerk nachzugehen. Ein Automobil bog in die Straße ein, hupte, hielt quietschend vor Boris. Der Fahrer hupte weiter, bis Boris die Hauswand erreichte und erschöpft zusammensackte.
»Vagabund!«, rief der Fahrer, bevor er davonfuhr. Ein Passant kam aus dem Haus, vor dem Boris lag, warf ihm einen kurzen Blick zu, murmelte etwas. Undeutliches Gebrabbel, es klang abfällig.
»Was hast du gesagt?«, fragte Boris. Er war schlecht gelaunt. Er hatte diesen Morgen genug einstecken müssen. Jetzt reichte es ihm.
»Ich sagte: Strauchdiebe. Da traut man sich ja kaum noch auf die Straße, um seiner ehrlichen Arbeit nachzugehen.«
Was hatte er auch gefragt. Gereizt konzentrierte Boris sich auf näherliegende Herausforderungen: Sich hinsetzen – und nicht gleich zur Seite kippen.
»Ich weiß ganz genau, wo du arbeitest. Es ist eine Schande.«
»Und ich weiß, wo du wohnst!«, knurrte Boris.
Der Passant eilte hastig davon. Boris legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Einen kurzen Moment ausruhen, danach würde er den Heimweg schaffen. Wahrscheinlich. Aber es hatte ihn bereits ein weiterer Bürger dieser Stadt im Visier. Schlurfende Schritte näherten sich ihm und blieben vor ihm stehen.
»Ich weiß, wer du bist!«, krächzte eine alte Frauenstimme.
»Lass mich in Ruhe.«
»Ich habe dich gesehen.«
Müde öffnete er ein Auge. Die Frau deutete mit einem knochigen, vom Alter verkrümmten Finger auf ihn. Ihre Füße steckten in Pantoffeln, über ihrem Nachthemd trug sie einen Morgenmantel.
»Ich habe dich gesehen«, wiederholte sie.
»Wie unhöflich, deine Nachtruhe zu stören«, erwiderte Boris bissig.
»Du warst in meiner Schule.«
Ignorier sie, nahm er sich vor, stemmte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schob sich langsam hoch, bis er auf den Beinen stand. Nicht weit entfernt klapperte eine Droschke über Kopfsteinpflaster. Ihm kam der Gedanke, dass es eine gute Idee sei, jemanden zu finden, der ihn nach Hause fuhr. Er hatte kein Geld, Wassilisa bewahrte auf, was er als Vorschuss bekommen hatte. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, sie hatte den Rest in einer Küchenschublade verstaut. Zu seinem Glück bog die Droschke gerade in seine Straße ein. Er bereitete sich darauf vor, die Hand zu heben, um sie anzuhalten, obwohl er es für unwahrscheinlich hielt, dass der Kutscher dem nachkäme.
»Du bist der Vater der Neuen.«
Zu seinem Erstaunen hielt der Fahrer. Aus dem Wagen stiegen Homunkel in weißer Kleidung. Eine Kutte? Oder die Kleidung der Pfleger im Versuchslazarett? Die Realität begann ihm wieder zu entgleiten, sich mit der Vergangenheit zu vermischen. Hatte man die Kutsche weiß gestrichen und prangte ein großes rotes Kreuz auf der Seite, oder war es einer der versiegelten Holzkarren, mit denen man ihn und tausend andere ins Versuchslazarett geschafft hatte? Zwei Homunkel näherten sich der Alten, die sich verstört umsah. Nein, in den Holzkarren damals waren keine Homunkel gewesen. Er musste in Cöln sein.
»Ich möchte heim«, sagte sie, versuchte ihren Arm dem Homunkel, der sie gepackt hatte, zu entwinden.
»Tut der Hexe nicht weh«, sagte Boris. Warum mischte er sich ein? Bei seinem Glück würde die verwirrte Alte gleich auf ihn zeigen und anklagen: Böse bis ins Mark. Er hat seinen Bruder Sergej ermordet. Die Stimme seines Offiziers meldete sich: Hör auf zu zappeln. Du magst es doch auch. Er glaubte den alkoholgeschwängerten Atem zu riechen und bekam keine Luft mehr.
»Das könnten wir niemals tun.« Einer der anderen Homunkel war zu ihm getreten, sein unfertiges Gesicht und seine weiche Stimme holten ihn in die Gegenwart zurück.
»Bruder Bescheidenheit«, krächzte Boris, den Ekel vor dem Atem seines Offiziers niederringend.
»Nein, Freund Boris«, erwiderte der Homunkel. »Ich bin Bruder Stille.«
Boris sah an ihm vorbei und musste ihm recht geben, die Pfleger-Homunkel gingen sehr behutsam mit der Greisin um, einer redete mit leiser Stimme beruhigend auf sie ein.
»Wo bringt ihr sie hin?«
Die Alte lehnte ihren Kopf gegen die Brust des einen Homunkels, der ihr wie einem kleinen Kind über den Kopf strich. Ohne Widerstand ließ sie sich zur Droschke führen, wo man ihr beim Einsteigen half. Jemandem wehtun sah anders aus.
»Wir bringen sie nach Hause«, antwortete Bruder Stille und lächelte, was seltsam in diesem nur halb ausgeformten Gesicht wirkte.
»Wir haben ein Heim, wo man sich gut um sie kümmern wird. Wir wissen nicht, woher diese bedauernswerten Geschöpfe kommen. Des Nachts brechen sie manchmal aus und suchen ihre Familien«
Boris traute Homunkeln nicht, doch bis auf seine Abneigung fand er nichts, was auf unlautere Absichten hindeutete. Der Homunkel nickte ihm zum Abschied zu, es war beinahe eine Verbeugung, und schloss sich seinen Kumpanen an. Vor der Kutsche hielt er inne, drehte sich noch einmal um.
»Unsere unglückseligen Schützlinge bekommen nie Besuch«, sagte er. »Es brächte Licht in ihr Dasein, andere Gesichter als unsere zu sehen.« Dann verschwand er im Wagen. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, das Pferd setzte sich in Bewegung. Boris grübelte über die merkwürdige Einladung nach und zu spät fiel ihm ein, dass er die Homunkel hätte bitten können, ihn zu Hause abzusetzen.
Olga
Es fiel Olga schwer, zu Hause zu bleiben, anstatt zum Salon zu laufen und fragen, warum Boris so lange arbeiten musste. In der Wohnung war es still, nur selten kam ein Schnaufen aus Gregorys Zimmer. Sie war böse mit ihm, gleichzeitig tat er ihr leid. Es musste ihm sehr langweilig sein. Nachdem sie ein paar Telegramme für Boris gemalt hatte, rang sie sich durch, nach Gregory zu sehen. Möglicherweise stand ihm der Sinn danach, Märchen zu hören. Ob sie ihm von Adele vorschwärmen sollte?
»Hallo, Gregory«, sagte sie und blieb in der Tür stehen.
»Katorgin«, erwiderte er. »Ich ziehe es vor, bei meinem Kampfnamen genannt zu werden, Kleine Schraube. Dieses Weib hat alle Vorsicht fahren lassen.«
Olga bereute, dass sie gekommen war, wich einen Schritt zurück.
»Komm rein«, befahl Gregory, »und erzähl mir, was passiert ist.«
»Was passiert ist?«
»Ja, was hat diese Frau dazu gebracht, einen Soldaten des Zaren in unser geheimes Lager zu bringen, ihm meine Identität zu verraten?« Er bleckte die Zähne. »Obwohl, ich weiß, was sie dazu gebracht hat. Frauen. Ich hätte sie für klüger gehalten.«
»Boris ist kein Soldat mehr«, widersprach sie vorwurfsvoll und warf einen Blick über die Schulter. Ob sie eine Ausrede benutzen sollte? Sie könne nicht bleiben, sie müsste für die Schule lernen?
»Komm her und setz dich«, sagte er barsch, dann seufzte er, wiederholte es freundlicher und fügte »Bitte« hinzu.
Gekränkt kam sie der Aufforderung nach. »Ich gehe, wenn du schlecht über Boris redest. Willst du, dass ich dir ein Märchen erzähle?«
»Nein«, sein Zorn brach wieder durch. »Erzähl mir von dem Bergwerk, das meine Leute erobert haben. Ich weiß, dass dort Salz abgebaut wurde und dass es eine geheime Anlage gab.«
»Ich habe nicht viel davon gesehen«, wich Olga aus, um Zeit zu gewinnen, während sie überlegte, wie sie von dem Lager erzählen konnte, ohne Boris dabei zu erwähnen – oder den Zaren. »Wassilisa weiß mehr.«
»Wir kamen nicht dazu, darüber zu reden. Wir hatten … andere Themen.«
»Ja, weil du mit ihr gestritten hast. Das ist nicht nett.«
Er knurrte böse. »Das geht dich nichts an!«
»Das geht mich wohl etwas an!«, stieß Olga aufgebracht aus. »Ich will, dass wir eine Familie werden. Und Wassilisa will das auch. So!«
»Das habt ihr euch schön ausgedacht, du und dieser Schwachsinnige. Und wie praktisch für eine Unfruchtbare, dass der Mann ein Kind mitbringt, mit dem er sie ködern kann. Aber glaub mir, meine Frau wird mich nie verlassen, dafür haben wir zusammen zu viel durchgemacht. Außerdem werde ich bald wieder laufen können, siehst du?« Er bewegte seine Finger, ballte die Hände zu Fäusten. »Mit jedem Tag geht es besser. Wenn ich gesund bin, werde ich mit meiner Frau Cöln verlassen und der Schwachsinnige kann nichts tun, um das zu verhindern.« Er bemerkte, dass Olga seine Fäuste ansah. »Das wird schneller sein, als ihr alle glaubt. Es hat schon seinen Grund, warum Wassilisa die Stelle bei dem russischen Arzt nicht bekommen hat und jetzt im Sanatorium der Demut arbeitet.«
Einen Moment lang genoss er seinen Triumph, bis ihm einfiel, dass er zu viel verraten haben könnte. »Du bist nur ein Kind, das Märchen erzählt. Wer würde dir schon glauben. Und außerdem sollte es dir und deinem Schwachsinnigen zu denken geben, dass meine Ehefrau euch nichts von ihrer neuen Stelle erzählt hat.«
»Boris ist nicht schwachsinnig!«
»Ich bin Arzt. Ich habe solche wie ihn behandelt!«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich weiß sogar, dass du lieber Arzt für Kinder geworden wärst, dann hast du was anderes gemacht, weil einer in deiner Familie gestorben ist. Bestimmt warst du schuld daran!« Sie ignorierte seinen funkelnden Blick. »Und sie hat gesagt, dass du deiner Mutter erlaubst, gemein zu ihr zu sein! Und dass du gar nicht Katorgin heißt! Den Namen hast du dir selbst gegeben. Aber Namen gibt man sich nicht selbst!«
Vor Zorn lief Gregory rot an.
»Was hat dieses dumme, läufige Weibsstück noch verraten?«, brüllte er. »Unsere Codewörter? Die geheimen Waffenlager? Unsere Spione und Nachschubwege?«
In seinem Gebrüll ging beinahe das leise Geräusch eines Schlüssels im Schloss unter.
»Wie sieht es mit einen Lageplan mit unseren Verstecken aus? eine Namensliste aller Rebellen und ihrer Familien?«
Eine Diele im Flur knarrte.
»Olga?«, rief Boris nach ihr. Seine Stimme klang angespannt und gleichzeitig kraftlos.
Olga machte auf dem Absatz kehrt und rannte Boris entgegen.
»Ich glaube, ich habe was Dummes getan«, gestand sie, schmiegte sich zitternd an ihn, als er in die Knie ging. »Ich hab Gregory gesagt, dass Wassilisa viel lieber mit uns eine Familie wäre als mit ihm und seiner bösen Mutter.«
Boris
Boris setzte sich auf den Boden. Er war zu müde, um daran zu denken, mit Olga zu reden, immerhin konnte er sie in die Arme nehmen und tröstend an sich drücken. Er hörte ihr zu, dämmerte immer wieder weg. Ihre Worte vermischten sich mit wilden Träumen: den am Himmel kreisenden Vogel, Magister Tachyon, Karelius und Blaubart.
»Hast du gewusst, dass Wassilisa im Sanatorium arbeitet?«, fragte Olga.
»Hm?«, machte er zwischen Schlaf und Wachsein.
»Das mit den Homunkel-Dämonen. Wo wir Yegor und Stella gesucht haben.«
Langsam sickerte die Bedeutung in sein Bewusstsein.
»Im Sanatorium?«, er riss die Augen auf, versuchte auf die Beine zu kommen. In diesem Sanatorium ging irgendetwas vor. Es konnte dort nicht alles so gut sein, wie es den Anschein hatte. Homunkel züchtete man, um die Drecksarbeit zu machen, drillte sie auf bedingungslosen Gehorsam, frei von Moralvorstellungen. Er verzog das Gesicht, ein Laut der Qual drang aus seiner Kehle, der nicht von der Anstrengung kam, aufzustehen. Er wusste, was er an Homunkeln hasste: sich selbst! Sich in ihnen wiederzuerkennen. Auf Befehl morden, töten, sterben, um den Interessen anderer zu dienen. Dumm gehalten werden, damit man keine Skrupel empfand. Bruder Bescheidenheit hatte recht, er war einer von ihnen. Und jetzt befand sich Wassilisa in ihrer Gewalt. Er taumelte in die Küche, fand die Schublade mit dem Geld und steckte es ein. Olga stand im Flur und sah ihn besorgt an.
»Ist dir was passiert? Du siehst ganz schlimm aus.«
»Prügel«, erwiderte er und versuchte mit einem Lächeln, den Vorfall herunterzuspielen.
»Gehst du zu Wassilisa?«, fragte sie, als er vor der Wohnungstür stand.
Er nickte. »Ich bin bald zurück«, sagte er und fühlte sich unwohl, weil er ein Versprechen gab, das er vielleicht nicht einhalten konnte. Im Grunde hatte er es als Wunsch gemeint.
»Ich komme mit. Ich mag nicht mit Gregory allein bleiben.«
Boris ging noch einmal vor ihr in die Hocke, obwohl er wusste, er sollte seine letzten Kraftreserven besser aufsparen.
»Bleib hier«, bat er, »auf der Straße ist es zu gefährlich für dich.«
»Aber du bist bei mir.«
»Im Augenblick könnten mich verwirrte Greisinnen außer Gefecht setzen. Ich kann dich nicht beschützen. Es ist nur für jetzt. Wenn ich geschlafen habe, wird es mir besser gehen.«
»Gut«, sagte sie, »dann legst du dich schlafen. Und danach besuchen wir Wassilisa gemeinsam.«
Boris verzog den Mund, Olga hatte recht, in dieser Verfassung wäre er keine Hilfe für Wassilisa, sondern eine Belastung. Es wäre vernünftig, zu warten. Doch schlafen, während sie in Gefahr war? Wenn du einmal nicht weißt, wie du dich verhalten sollst, dann höre auf Olga.
»Zwei Stunden«, sagte er. »Weck mich in zwei Stunden.«
Der Duft von heißer Brühe und leise klapperndes Geschirr weckten ihn. Olga kam aufs Bett zu, balancierte ein voll beladenes Tablett.
»Ich habe dir Suppe gemacht«, sagte sie, »und Brote. Sogar mit Butter! Wenn ich ganz schwach war, hat mir essen immer geholfen.«
Boris dachte an jenen Tag im Blausteinlager zurück. Tage zuvor hatte der Zar ihn erschossen und die Kartusche hatte die Kontrolle übernommen, sein Bewusstsein ausgeschaltet und ihn zu einer Stelle gelotst, an der sich die Kartusche regenerieren konnte. Das hatte er bisher geglaubt. Hatte ihn die Kartusche bewusst zu Olga geführt? Olga hatte sich um ihn gekümmert, hatte ihn mit mehr als nur mit Suppe versorgt – sie hatte ihm Zuneigung gegeben. Es hatte außerhalb seines Vorstellungsvermögens gelegen, jemals Freundlichkeit zu erfahren. Kein Mensch war nett zu ihm. Seltsam, dass dies erst ein paar Monate her sein sollte. Er ahnte, dass er jetzt ein anderer war, dass er einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Voller Dankbarkeit beobachtete er Olga. Sie musste sich konzentrieren, um nichts von der Suppe zu verschütten, und sah sich, als sie vorm Bett stand, ratlos nach einer Abstellmöglichkeit um, so weit hatte sie nicht im Voraus geplant. Sie wählte schließlich den Fußboden. Boris setzte sich auf. Olga reichte ihm einen Löffel – »Richtig vornehm!« – und einen Teller, packte so viele Brote wie sie halten konnte darauf. Sie sah ihm zu, während er die Suppe aß, und hielt ihm, immer wenn er den Löffel sinken ließ, ein Butterbrot hin. Dabei erzählte sie, dass ihre Schule an diesem Tag geschlossen war, weil ein Mädchen von zu Hause weggelaufen sei.
»Ich glaube, ihre Eltern waren nicht lieb zu ihr«, mutmaßte sie. »Gibt es in Cöln Soldatenbastarde?«
Es fühlte sich wie ein Stich ins Herz an. Der Mann, den sie Vater nannte, war nicht ihr Vater. Das war irgendein Soldat. Es könnte jeder sein. Er könnte es sein. Ihre Eltern hatten Olga nie ansehen können, ohne daran erinnert zu werden. Er hatte keinen Grund, auf Homunkel herabzublicken. Wenigstens zogen sie nicht vergewaltigend durchs Land. Seine Hände zitterten, er stellte den Teller beiseite.
»Mit wem hast du dich geprügelt?«, fragte sie bekümmert. »Haben sie dir sehr wehgetan?«
»Es waren Gäste aus dem Salon«, antwortete er leise und fügte noch leiser hinzu: »Bitte bleib hier, wenn ich Wassilisa suche. Dass dir etwas passiert, ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.«
Auf der Straße sah er sich nach einer Droschke um. Er hatte noch nie eine gemietet und keine Ahnung, wie viel es kostete. Doch das Sanatorium befand sich am anderen Ende der Stadt. Zu weit für ihn.
Am Ziel angekommen, bezahlte er den verlangten Preis und stieg aus. Der eingestürzte Gebäudeteil war nach wie vor mit einem riesigen Bauzaun abgesperrt, er hörte, dass dahinter gearbeitet wurde. Es klang unverdächtig.
Entschlossen marschierte er auf den Haupteingang zu, versuchte zu verbergen, wie wackelig er auf den Beinen war. Die Eingangshalle war leer, in den Gängen rechts und links sah er die weiß bekutteten Homunkel. Es waren nicht viele, sie bemerkten ihn, schienen aber nicht gegen sein Eindringen vorgehen zu wollen. Vielmehr nickten sie ihm zu. Wieder einmal begann er, das Haus zu durchsuchen. Dieses Mal fiel ihm noch deutlicher auf, wie hell und freundlich die Krankenzimmer wirkten. Große Räume für jeweils nur einen Patienten. Keine Schmerzensschreie oder Stöhnen durchbrach die friedliche Stimmung. Boris gab es ungern zu, er hatte das Gefühl, dass man in dieser Atmosphäre gesunden könnte. Dennoch, es musste einen Haken geben.
Trotz der Größe des Sanatoriums waren nur wenige Krankenzimmer belegt. Er beschloss, einen der Patienten anzusprechen. Zu seinem Erstaunen begrüßte ihn der Mann, als würde er ihn kennen.
»Ach, du bist es.«
Boris versuchte ihn einzuordnen. Waren sie sich schon einmal begegnet? Einer der Gäste des Salons? Ein Teil seines Gesichtes und die rechte Körperhälfte waren mit Verbänden umwickelt. Soweit Boris es beurteilen konnte, verbargen sie Brandwunden. Sie mussten sehr schmerzhaft sein, doch der Fremde lächelte. Boris schnupperte, hatte man den Mann mit Ether betäubt? Eine neue Form von Ether, der die Schmerzen nahm, ohne das Bewusstsein auszuschalten? Er konnte keinen auffälligen Geruch wahrnehmen.
»Wo ist Wassilisa?«
»Du bist immer noch auf der Suche nach jemandem?«, fragte der Mann. »Tut mir leid, dass ich nicht weiterhelfen kann.«
»Gibt es hier«, Boris machte eine Geste, die das ganze Sanatorium einschloss, »etwas, das merkwürdig ist?« Welche Frage musste er stellen, um das zu erfahren, was er wissen wollte? »Wem gehören die Homunkel?«
»Es sind Befreite«, antwortete der verwundete Mann. »Ich weiß nicht, ob sie rechtlich gesehen noch jemandem gehören, ich bin bei der Feuerwehr und nicht bei der Justiz.«
Boris gab ein unwilliges Brummen von sich. Gehörte er noch der Armee? Seine ersten Entlassungspapiere hatte er vernichtet, um die Welt zu retten, seine zweiten – vom Zeitzwilling-Zar ausgestellt – waren ihm von Sense in der Salzmine abgenommen worden. Und jedes Entlassungsschreiben wäre hinfällig, sollte Major Rysakow erfahren, dass er noch lebte. Nach Auffassung des Ochrana-Majors war er als Blauer Krieger Regierungseigentum. Er tastete nach der Tätowierung in seinem Nacken. Gerade er sollte mehr Verständnis für Homunkel aufbringen; wissen, wie schwer es war, sich von Knechtschaft zu befreien und mit dem Misstrauen umzugehen, das einem entgegenschlug.
»Boris«, sagte Bruder Bescheidenheit hinter ihm. »Wie erfreulich, dich hier begrüßen zu dürfen.«
Der Homunkel betrat den Raum, auf dem Gesicht ein Lächeln – geformt von Muskeln, die nie dazu bestimmt waren.
»Wofür hat man dich gebaut?«, fragte Boris. »Welchem Herren hast du gedient?«
»Für ein Bergwerk. Ich baute Erz ab«, er deutete eine Verbeugung an. »Mein Eigentümer war ein Minenbesitzer im Erzgebirge.«
»Und … wie hast du dich … wurdest du … befreit?«
Im Bett knarrten Sprungfedern, als der Feuerehrmann sein Gewicht verlagerte.
»Jeder Befreite hat seinen eigenen Weg«, sagte Bescheidenheit. »Meiner war: Ich wurde verschüttet. Ein Stollen brach über mir ein. Ich verbrachte fast zwei Monate in vollkommener Dunkelheit. Als ich mir einen Weg zurück ans Licht gegraben hatte, waren meine Prägungen ausgelöscht. Ich ging nach Cöln und fand Aufnahme bei meinen Ordensbrüdern.«
Boris war noch nicht so weit, seine Skepsis aufzugeben. Angestrengt suchte er nach einem Ansatzpunkt.
»Was ist mit ihm?« Er wies auf den Feuerwehrmann. »Er müsste Schmerzen haben.«
»Wir haben gegen die Schmerzen gesungen.«
»Gesungen?«
»Selbstverständlich. Leider hält die Wirkung nur eine kurze Zeit an. Er befindet sich in der Vorbereitung auf die Heilung. Dazu ist es notwendig, dass die Patienten sich wohlfühlen.«
»Das stimmt«, bestätigte der Mann »Ich war zuerst auch misstrauisch. Und dennoch haben sie mich hier aufgenommen. Ich muss die Behandlung nicht einmal bezahlen. Ich hätte sie mir nie leisten können.«
Bescheidenheit neigte den Kopf in Richtung des Feuerwehrmannes. Boris hatte endlich einen Punkt, der nicht ins Bild passte.
»Wenn ihr das hier aus Güte tut«, sagte er herausfordernd, »warum verlangt ihr von anderen so viel Geld?«
Der Homunkel nickte. »Es war nicht unsere Entscheidung. Obwohl man in Cöln viele Ausdrucksformen des menschlichen Daseins toleriert, so begegnet man unsereins dennoch mit Misstrauen. Man belegte uns mit Auflagen. Eine davon ist, unsere Dienste den Kranken nicht kostenlos zuteilwerden zu lassen. Man untersagte uns, in Konkurrenz mit den Krankenhäusern zu stehen. Eine langwierige Behandlung im Krankenhaus muss billiger sein als unsere Heilung. Einen Teil dieser Einnahmen dürfen wir behalten. Damit betreiben wir ein Pflegeheim für Wesen, die von der menschlichen Gesellschaft ebenso wie wir verstoßen wurden. Ich hörte, du hattest heute Morgen eine Begegnung mit meinen Brüdern, die sich der Alten und Gebrechlichen annehmen.«
»Der Krankenwagen?«, fragte Boris irritiert.
Bescheidenheit nickte. »Ich bin erfreut, dass du der Einladung nachgekommen bist. In der Nacht des Feuers kamen wir nicht mehr dazu, das Pflegeheim zu besichtigen. Es wäre mir eine Freude gewesen, es dir zu zeigen.«
»Warum?« Boris verstand nicht, was um ihn herum gespielt wurde. Selbst wer nichts zu verbergen hatte, mochte es nicht, wenn Fremde herumschnüffelten.
Anstatt gleich zu antworten, zog Bescheidenheit eine Schulter hoch, drehte sich ein Stück weg. »Das Dasein zwingt uns zu verschlungenen Pfaden«, murmelte er und Boris konnte nicht erkennen, ob die Worte ihm galten oder ob der Homunkel mit sich selbst gesprochen hatte. Nach einem kurzen Moment wandte sich Bescheidenheit ihm wieder zu.
»Ich vermute, dein Besuch gilt weniger uns oder unseren Schützlingen, sondern deiner Gefährtin.«
»Wassilisa. Wo ist sie?«
»Komm, mein Bruder, ich bringe dich zu ihr.«
Sie verließen das Gelände des Sanatoriums und Bescheidenheit schlug den Weg in Richtung Stadtrand ein. Allerdings ging er nicht weit, eine Querstraße weiter betrat er ein weiß getünchtes Gebäude. Es war nicht neu errichtet, so wie das Sanatorium, in Boris’ Erinnerung war es ein heruntergekommenes Haus gewesen, bewohnt von Opiumrauchern und Trinkern. Auf der Suche nach der Zeitmaschine hatte er es durchsucht. Von innen war das Haus kaum wiederzuerkennen: die kleinen Kammern waren hellen Zimmern gewichen, es stank nicht mehr nach Alkohol, Erbrochenem und anderen Körperausscheidungen. Der als Müllplatz genutzte Innenhof hatte sich in einen Garten verwandelt, baufällige Verschläge waren von Büschen und Blumenbeeten verdrängt worden.
»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, sagte Bescheidenheit, der Boris’ staunenden Blick bemerkte.
In einem Liegestuhl sah er die Greisin von letzter Nacht, sie schlief. Neben ihr saß ein Homunkel, hielt ihre Hand und sagte ihr leise etwas ins Ohr. Keine Worte, nur Laute. Wohlklingende, beruhigende Laute. Es fühlte sich an, als tanzten sie perlend durch seinen Körper und lösten auf ihrem Weg Schmerzen und unliebsame Erinnerungen auf.
»Ich spüre deine Erschöpfung«, sagte der Homunkel und Boris erschrak, als er ihm plötzlich eine Hand zwischen die Schulterblätter legte. Es war, als hefte sich ein Magnet an seinen Rücken. »Da sind Energien im Ungleichgewicht. Ihre Harmonisierung schreitet nur langsam voran.«
Bescheidenheit zog seine Hand zurück. Boris warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Von deiner Erschöpfung könnte ich dich befreien, ich könnte sie fortsingen.«
»Nein!«
Bescheidenheit seufzte. »Manche Prägungen sind schwer zu brechen.«
»Wo ist Wassilisa?«, fragte Boris wütend.
Bescheidenheit brachte Boris zu Wassilisa und ließ sie allein. Boris sah ihm unbehaglich hinterher. Zog er sich zurück, damit sie sich unbeobachtet wähnten und man sie belauschen konnte?
»Etwas stimmt hier nicht.«
Wassilisa lächelte amüsiert, nahm ihn bei der Hand und zog ihn in ein kleines Zimmer.
»Der Aufenthaltsraum für das Pflegepersonal«, erklärte sie.
Boris sank ermattet auf eine Liege.
»Warum bist du hier?«, fragte sie und lächelte wissend.
»Ich dachte, du bist in Gefahr«, gestand er. » Yegor und Stella waren hier, bevor sie verschwunden sind. Die Explosion. Die Stimmen der Homunkel. Und dann ist noch Tachyon in Cöln.«
»Tachyon? Der Mathemagier aus dem Versuchslazarett?«
Boris nickte.
»Und da bist du hergekommen, um mich zu retten?«
Er grunzte. Es klang fast so, als verspotte sie ihn.
»Boris, ganz ehrlich, du siehst furchtbar aus. Wer hat dich so zugerichtet?«
»Luftschiffer. Haben mir aufgelauert. Mich verprügelt.«
»Und du bist hergekommen, um mich zu retten, obwohl du kaum stehen kannst.«
»Oder um dich zu warnen. Etwas …«
»… stimmt hier nicht, ja, sagtest du. Ach, Boris. Ich bin seit meinem vierzehnten Lebensjahr im Widerstand. Glaubst du, ich würde nicht die Möglichkeit einer Falle oder eines Hinterhalts in Betracht ziehen?«
»Hast du etwas Verdächtiges entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht auf den ersten Blick. Alle Patienten wirken zufrieden. Die Alten sind nicht ansprechbar. Sie werden liebevoll umsorgt. In ein paar Tagen soll der Raum der Stille wieder einsatzbereit sein. Ich darf dabei sein, wenn sie ihre Wunder vollbringen, und …« sie holte tief Luft und wirkte aufgeregt, »… sie wissen von Gregory und seinem Zustand. Bescheidenheit sagte, das Sanatorium dürfe diese Entscheidungen nicht selbst treffen, sie müssten jeden Patienten von einer Kontrollkommission genehmigen lassen, doch er sei zuversichtlich, dass man ihnen erlauben würde, Gregory zu heilen.«
Ganz im Gegensatz zu Wassilisa freute er sich nicht über diese Aussichten. Wenn Gregory gesund wäre, würden sie Cöln verlassen und er sähe Wassilisa nie wieder.
»Aber einiges ist seltsam«, fuhr sie ernst fort. »Ich bin der einzige Mensch, der einzige Nicht-Homunkel hier. Auch die einzige Krankenschwester. Ich verstehe nicht, warum sie mich eingestellt haben, sie brauchen mich nicht. Das habe ich auch Bruder Reue gefragt, er sagte, es wäre eine Auflage der Kontrollkommission; medizinisches Personal, um auf Komplikationen vorbereitet zu sein.« Sie machte eine Pause, legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Selbst wenn das stimmt – warum ich? Warum eine Krankenschwester, die die Landessprache nicht versteht? Mit den Homunkeln kann ich mich halbwegs verständigen. Sie sprechen mehr oder weniger gut tschechisch, weil sie dort gezüchtet wurden. Aber ich kann mich mit den Patienten nicht unterhalten. Sie könnten über Schmerzen klagen, doch wenn sie dabei zufrieden lächeln, würde ich nicht merken, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
»Lass uns gehen«, bat Boris, »zurück nach Russland. Arbeite nicht mehr hier.«
»Und Gregory?«
»Wir nehmen ihn mit.«
»Und wie kommen wir hin?«, fragte sie weiter, »Erik ist mit seinen illegalen Aufträgen beschäftigt. Er ist darauf versessen, viel Geld zu verdienen, um das Internat seiner Tochter bezahlen zu können. Und nicht zuletzt, was ist mit dir? Was ist mit dem Versprechen, das dir Nikola gegeben hat, deinen Tastsinn wiederherzustellen? Das ist es, was du dir wünschst.«
Sie strich ihm übers Gesicht, er schmiegte seine Wange in ihre Hand. Das Sanatorium verbarg ein Geheimnis, doch warum es aufdecken, warum das Rätsel lösen? Es war das Problem Cölns, nicht seines. Er hatte schon die Welt gerettet, war es da zu viel verlangt, dass diese Stadt sich um ihre Angelegenheiten selbst kümmerte?
»Außerdem müssen wir Yegor und Stella finden«, sagte sie weich.
»Du musst hier nicht arbeiten.«
»Boris, ich kann auf mich aufpassen. Und ich habe Erfahrung mit verdeckten Einsätzen.«
Niedergeschlagen machte er sich auf den Heimweg. Er holte das Geld aus der Hosentasche und betrachtete die bunten Scheine. Er hätte gerne eine Droschke genommen, doch Wassilisa schien entschlossen, Gregory im Sanatorium heilen zu lassen. Dafür würden sie Geld brauchen. Viel Geld. Das bedeutete, er durfte seine Arbeit nicht verlieren. Er musste nach Hause und dringend schlafen, um seiner nächsten Schicht gewachsen zu sein. Und er musste seine Uniform waschen.