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Die Zeitmaschine des Arabers

Russland und CÖln 1898

Unerklärliche Zeichen

Boris hört Stimmen, hat Halluzinationen und glaubt an Zeichen. Die Stimmen sind böse, verhöhnen und Quälen ihn. Seine Olga-halluzination ist sein Quell der Freude und Zuneigung. Wozu die Zeichen gehören, weiß er noch nicht. Zum Bösen oder Guten in seinem Leben? Was passiert, wenn er ihnen folgt?


1. Kapitel - Folgt den Zeichen

"Boris Sergejewitsch war sich vollkommen im Klaren darüber, dass er den Verstand verloren hatte und er wusste, einzig und allein aus diesem Grund fand er sich in einer Welt zurecht, auf die er nicht vorbereitet war. Geistige Gesundheit galt nur unter jenen als erstrebenswert, deren Dasein nicht aus einer Aneinanderreihung endloser Scharmützel bestand; die das Glück hatten, beizeiten ihr Leben auf dem Schlachtfeld zu lassen, anstatt in 44 Dienstjahren ihre Menschlichkeit zu Grabe zu tragen."


Die Welt hat noch etwas vor mit Boris und Olga

In der Tunguska betreibt der Quantenmagier Karelius seine Experimente. Offiziell arbeitet er an einem Ätherluftschiff, doch er verfolgt auch eigene Ziele, von denen Boris ein Teil ist.

In Cöln trifft Lord Magnus ein. Bei sich hat er Pläne, hinter denen jeder Geheimdienst her ist. In der freien Reichsstadt regieren Laster und Verbrechen. In der verborgenen Unterwelt unter dem Pflaster der Straßen ist es noch schlimmer. Die Kraken-Gesellschaft verfolgt zwielichtige Ziele, hat fast überall ihre Spione eingeschleust.

Boris und die Zeichen
Olga rettet Boris

Olga und die Narbe

Olga war ihr Leben lang arm. Als Kind Leibeigener litt sie nicht nur Hunger, sie war auch arm an Geborgenheit und an Zuneigung. Niemand hatte sie gewollt, am wenigsten ihre eigenen Eltern. Eine Narbe ist für sie das deutlch sichtbare und unmissverständliche Zeichen, ungeliebt zu sein. Manchmal fürchtet sie, Boris könne eines Tages merken, dass sie nur ein unnützes, ungeliebtes Straßenkind ist und seine eigene Familie gründen – ohne Olga. Vielleicht mit Adele, der Prostituierten aus dem Salon …


Boris und die Frauen

Zuneigung und Liebe sind ihm so fremd, dass es nicht einmal weiß, wie sehr er sich danach sehnt. Obwohl Boris noch nie außerhalb Russlands war, scheint man in Cöln zu wissen, wer er ist. Was ihn daran wirklich verwundert ist nicht der Umstand, dass die Frauen des Salons ihn kennen, sondern das sie ihn mögen. Es fühlt sich gut an, gemocht zu werden.

Der Kuss im Versuchslazarett

Clockwork Cologne

Die drei Serien der Clockwork Cologne-Welt sind locker miteinander verknüpft. Die "Die Zeitmaschine des Ababers" spielt zeitgleich mit "Guy Lacroix - Aud der Jagd nach dem Rosenkranzmörder" und "Magnus - Der Blaue Tod". Boris und Olga begegnen bekannten Haupt- und Nebenfiguren aus diesen Serien und als Magnus die Zeitmaschine des Arabers Rasul-at-Tabari einschaltet, bewirkt ihre Anwesenheit eine unverhergesehne Entwicklung der Ereignisse.

Darin sind sich die Leser einig …

Nicht nur Boris und Olga sind liebevoll beschrieben und lebensecht, auch die Nebenfiguren haben Tiefe und eine kleine Fangemeinde unter den Lesern. Manch einer wünscht sich, dass sie eine eigene Sreie bekommen.

Im Blausteinlager

Leseprobe


33. Kapitel

Adele


Olga

»Boris!«, rief Olga erleichtert aus, als er die Plane von den Fässern zog, und streckte ihm die Arme entgegen, damit er sie hochheben konnte. »Da war eine Stimme, sie war in meinem Kopf und hat mich ganz benommen gemacht und danach wurde geschossen und geschrien.«
»Es ist alles gut«, sagte Boris sanft. »Wir gehen jetzt in den Salon. Natalja ist nicht mehr böse auf uns.«
»Das ist schön«, seufzte sie und kuschelte sich in die Sicherheit seines Arms. »Oh, da ist ja der Wachmann, der uns nicht reinlassen wollte. Hat Natalja ihn uns hinterhergeschickt, um zu sagen, dass es nur ein Irrtum war? Immerhin hattest du doch Adele befreit und es war nicht deine Schuld, dass Major Rysakow sie entführt hat. Ob ich wieder heiße Schokolade bekomme? Die mag ich besonders gerne. Was magst du eigentlich besonders gerne? Auch heiße Schokolade? Dann koche ich eine für dich. Wenn es etwas anderes ist, dann mach ich das. Und wenn ich das nicht kann, dann lerne ich es. Also ich kann schon Suppen kochen, Brei und Kartoffeln und Spiegeleier. Spiegeleier sind toll. Isst du die auch so gerne wie ich? Nun sag schon, was magst du besonders gerne?«
Wahrscheinlich hätte sie weiter geredet, wenn Boris nicht plötzlich zu zucken angefangen hätte, so als ob er entweder weinen oder lachen würde. Sie wollte ihm ins Gesicht schauen, um zu sehen, was er hatte, doch er neigte den Kopf und presste seine Wange gegen ihre.
»Dich«, sagte er ganz leise in ihr Ohr und als Olga begriff, was er damit meinte, weinte sie hemmungslos.

Kurz bevor sie den Salon erreichten, schaffte sie es, ihre Tränen wieder zu trocknen. Sie freute sich auf ihre beiden kleinen Kammern unter dem Dach, es fühlte sich fast so wie nach Hause kommen an und auf Adele freute sie sich auch.
Der Wachmann brachte sie zum Haupteingang, betätigte eine Klingel und ein livrierter Diener mit weißer Perücke ließ sie ein. Im unteren Teil des Salons, dem Bordell, herrschte der übliche Betrieb, den Olga nicht besonders mochte. Der Wachmann gab einem Diener Anweisungen und der führte sie in einen der vornehmen, großen Räume. Er sagte etwas zu den Frauen, die hier herumsaßen, stellte ihnen offensichtlich Boris vor. Olga fand das überflüssig, schließlich kannten sie alle, doch der Wachmann musste neu sein, als sie das letzte Mal hier gewohnt hatten, war er nicht unter dem Personal gewesen. Olga reckte den Hals und hielt nach Adele Ausschau. Sie hatte auch den Eindruck, Boris sähe sich heimlich nach ihr um, doch Adele war nicht unter den Frauen, die nun aufstanden und sich um sie versammelten.
»Ob wir unser altes Zimmer wieder kriegen?«, fragte sie Boris leise.
»Ich denke schon«, murmelte er.
»Dann lass mich runter. Während du allen hier guten Tag sagst, gehe ich was zu essen holen und warte oben auf dich.«
Boris setzte sie ab, sie wühlte sich durch die Menge und eilte in die Küche.
»Guten Tag«, sagte sie auf Deutsch zu den Köchinnen und Küchenmädchen und bereute, immer noch nicht gelernt zu haben, was Hunger auf Deutsch hieß. Stattdessen sagte sie: »Heiße Schokolade!«
Die Köchinnen sahen sich an und wirkten eher so, als würden sie sie gleich vor die Tür setzen, als ihr heiße Schokolade zu machen. Eine rief nach der Wache. Wahrscheinlich wussten sie noch nicht, dass Natalja nicht mehr böse auf sie war. Zum Glück tauchte der Diener auf, sprach ein paar Worte und danach war alles in Ordnung. Jemand setzte Milch auf den Herd und Olga beschloss, Adele zu suchen. Sie fand sie im Spielzimmer. Sie saß auf dem Schoß eines dicken, Zigarren rauchenden Mannes, der mit anderen Männern, die ebenfalls Frauen auf dem Schoß hatten, Karten spielte. Bisher war es Olga immer sehr peinlich gewesen, wenn sie Adele bei der Arbeit erlebte, aber heute schlich sie nicht davon, sondern eilte auf sie zu und versuchte sie vom Schoß des Mannes zu ziehen.
»Boris gekommen«, sagte sie freudestrahlend in ihrem besten deutsch, »Adele Boris sagen: Guten Tag.«
Ärgerlich zog Adele ihre Hand zurück. Sie fühlte sich offensichtlich von Olga belästigt. Betrübt ließ Olga den Kopf hängen, zeigte auf den dicken Mann. »Böse«, sagte sie, um auszudrücken, was sie von Adeles Arbeit hielt, wies dann der Reihe nach auf die anderen Männer. »Böse. Böse. Böse.« Sie kehrte in die Küche zurück, wartete, bis die heiße Schokolade fertig war. Die Köchin hatte nur eine Tasse gemacht. Schmollend holte Olga eine leere Tasse aus dem Geschirrschrank und ging nach oben in ihre Kammer. Sie setzte sich auf das große Bett, füllte die Hälfte ihrer heißen Schokolade für Boris ab und gab sich Mühe, nicht gekränkt zu sein, weil Adele sich so abweisend verhalten hatte. Sie trank ihren Anteil heißer Schokolade und schlief bald darauf ein.


Boris

Boris betrachtete die Frauen, die sich um ihn scharten, und versuchte zu verstehen, was das zu bedeuten hatte. Sie waren ihm früher zwar immer höflich begegnet, auch wenn er mit den meisten von ihnen kaum ein Wort gewechselt hatte. Jetzt buhlten sie um seine Aufmerksamkeit, überboten sich darin, ihm ihre Reize anzubieten. War es, weil er dem Drachen den Kopf abgeschlagen hatte? Olga war nicht da, um es ihm zu erklären. Er hielt nach Adele Ausschau. Er hätte sie gerne wiedergesehen, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Dafür sah er Milla die Treppe herunterschlendern. Vielleicht könnte sie ihm sagen, wo Adele war. Milla bemerkte seinen Blick, winkte einen Diener heran, der ihr etwas ins Ohr flüsterte.
»Ich bin Fritzi«, stellte sich eine Blondine Boris vor, so als würde er sie nicht kennen. Fritzi schlug verführerisch die Augen nieder. Sie war eher Kind als Frau, wirkte sogar noch jünger als vor ein paar Wochen.
Der Wachmann grinste Boris breit an, tippte sich grüßend an die Stirn und ließ ihn mit den Frauen allein.
Milla erreichte die Traube aus Frauen, die Boris umringten, und bahnte sich einen Weg durch sie hindurch.
»Du bist ein Held, wie ich gehört habe«, sagte sie. »Ich habe eine Schwäche für Helden.«
»Wo ist Adele?«, fragte Boris. Er spähte über die Köpfe der Frauen hinweg, war bekümmert, sie nicht zu entdecken.
»Ach, die«, sagte Milla, »die ist beschäftigt. Doch glaub mir, sie ist sowieso nicht dein Fall. Sie ist viel zu affektiert.«
»Sie will mich nicht sehen?«, versuchte er Millas Worte zu verstehen.
»Vergiss sie«, Milla legte ihre Arme um seinen Hals, »Sie weiß es einfach nicht zu schätzen, einen echten Helden im Bett zu haben«, sie kraulte seinen Nacken. »Ich hingegen stehe auf Helden.«
»So ein starker Krieger wie du hat doch bestimmt Durst«, ging die hochgewachsene Esmeralda mit ihrer typischen rauchigen Stimme dazwischen, drückte ihm ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit in die Hand. Es war Wodka. Boris versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Alkohol getrunken hatte. Es war lange her. In einem Dorf, durch das seine Einheit plündernd gezogen war. Ihre Finger legten sich um seine Hand, mit der er das Glas hielt, führten es sanft zu seinen Lippen. Der Wodka hatte wie alles andere keinen Geschmack, doch der Alkohol verursachte ein ungewohntes Brennen in seiner Kehle. Jemand nahm ihm das leere Glas aus der Hand, gab ihm ein neues, führte es wieder an seine Lippen. Esmeralda steckte ihm ihre Zunge ins Ohr. Boris erschrak beinahe, drehte den Kopf und sah Esmeralda an. Milla nahm ihn lachend bei der Hand und zog ihn von den anderen fort.
»Ihr verschreckt ihn noch, unseren Krieger«, sagte sie vergnügt. »Heute habe ich den Hauptgewinn gezogen. Pech für euch, Mädels. Vielleicht habt ihr morgen mehr Glück.«
Die Frauen lachten. »Morgen? Wer sagt denn, dass wir so lange warten müssen?«
Boris folgte Milla. Auf dem Weg zur Treppe entdeckte er Adele und blieb stehen. Sie saß auf dem Schoß eines dicken Mannes. Er rauchte Zigarre, trug ein Monokel und an seinen Fingern glitzerten edelsteinbesetzte Ringe.
»Adele?«, fragte Boris vorsichtig.
Obwohl er leise gesprochen hatte, schien sie ihn gehört zu haben, denn sie drehte den Kopf. Sie behielt ihr professionelles Lächeln bei, doch für einen kurzen Augenblick mischte sich noch etwas anderes darunter. Etwas, was wie Widerwillen, beinahe wie Ekel aussah. Aber warum? Hatte Boris sich getäuscht? Er war nicht gut darin, Gesichtsausdrücke zu deuten. Milla versuchte ihn weiter zu ziehen. Adele wandte sich von ihm ab, doch nun bemerkte ihn der reiche Fettsack.
»Kennst du den Herrn?«, fragte er Adele leise. Seine Stimme klang spottend.
»So einen Bauerntölpel?«, gab Adele zurück und die beiden lachten.
»Komm schon«, sagte Milla gurrend, »Sie ist wirklich nichts für dich.«
Adele und der Fettsack flüsterten miteinander. Sie machten sich über Boris lustig.
»Wie mir scheint, hast du einen Verehrer aus den unteren Schichten. Möchtest du nicht zu ihm? Ich wette, er hat ein Jahr lang gespart, um sich einen Besuch im Salon leisten zu können.«
»Ein Jahr?«, Adele lachte, »Ich denke, ein Jahrzehnt ist wahrscheinlicher.«
»Und da willst du ihn enttäuschen? Sieh ihn dir doch nur an.«
Die beiden wussten nicht, dass Boris sie hören konnte, aber es wäre ihnen vielleicht auch egal gewesen.
»Geh doch mit ihm«, neckte der Dicke Adele, »länger als ein paar Minuten wird es ja nicht dauern.«
»Gott bewahre. Das ist nicht nur ein Soldatentölpel, der Kerl ist ein Monstrum.«
Adele sah wieder zu Boris, bemerkte Milla, grinste und sagte: »Na, da hast du aber einen guten Fang gemacht.«
Der Fettwanst amüsierte sich über ihren Scherz. Auch die anderen Männer am Spieltisch stimmten in das Lachen ein. Boris schaute zu Boden, Milla hakte sich bei ihm ein und zögernd ließ er sich von ihr weiter ziehen. Adele meinte es nicht so, oder?
»Milla!«, rief Adeles Kunde ihnen hinterher, als sie schon aus seinem Blickfeld verschwunden waren. »Ich zahle dir hundert extra, wenn wir dabei zusehen dürfen.«
»Mach dir nichts draus«, flüsterte Milla. »Wenn Adele erst erfährt, dass du auf Nataljas Einladung hier bist, wird sie schon netter zu dir sein.«
Boris presste unglücklich die Lippen aufeinander, folgte Milla die Treppe nach oben.
»So, mein Held«, sagte sie, als sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, »welche Heldentat hast du denn vollbracht, dass du Nataljas persönlicher Gast bist? Sven wollte es nicht verraten.«
Boris sah sich um. Das war nicht die Dachkammer, es war ein großes Schlafzimmer. Ein Baldachin über dem Bett, Laken aus Seide. Warum hatte sich Adele über ihn lustig gemacht? Um dem dicken Kerl zu gefallen?
»Ich habe einen Drachen erschlagen«, sagte er freudlos.
Milla lachte, allerdings ohne eine Spur von Häme oder Boshaftigkeit.
»Das erklärt den Geruch. Aber mach dir nichts draus. Mich stört das nicht.«
Sie löste die Verschnürung ihres Kleides, streifte es sich über die Schultern und begann anschließend, ihm die Uniform auszuziehen. Sie runzelte die Stirn, als seine Jacke auf den Boden fiel und sie die Metallringe sah, die seinen Brustkorb einschnürten. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern darüber, berührte die Schrauben, die sich in seine Rippen bohrten.
»Tut es nicht weh?«, fragte sie. Sie klang mitfühlend.
»Nicht mehr«, antwortete Boris leise. »nicht mehr … auf diese Art.«
»Auf welche Art denn dann?« Sie strich ihm über die Brust, sah ihn an.
»Ich habe das alles nicht haben wollen«, brach es aus Boris heraus, »ich wurde nicht gefragt, als man … mir den Arm abschnitt, als man dieses … Monstrum aus mir machte.«
»Nein, du bist kein Monstrum«, sagte Milla und schob ihn langsam in Richtung Bett.
»Nein?«
»Nein! Kein Monstrum. Du bist ein Held. Du hast einen Drachen getötet. Weißt du nicht mehr?«

Draußen näherte sich der Morgen und im Salon war es still geworden, als Boris seine Sachen zusammensuchte, sich anzog und das Zimmer verließ. Er wollte in die Dachkammer, zu seiner Halluzination. Ein Knarren der Dielen ließ ihn innehalten und als er sich umdrehte, entdeckte er Adele. Sie trug ihr schlichtes, weißes Nachthemd. Mondlicht fiel durch ein Fenster, spielte mit dem langen Zopf ihrer goldenen Haare. Sie wirkte wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Aus einem anderen Leben. Die letzte Nacht, die er noch als Mensch verbracht hatte.
»Wassilisa!«, wisperte er.
Im ersten Moment schien Adele sich von ihm abwenden zu wollen, doch dann kam sie langsam näher. Boris konnte ihren Blick nicht deuten, er hatte etwas Feindseliges, obwohl ihre Miene ausdruckslos war.
»Aha«, machte sie. »Boris, der Gast des Hauses, ist gekommen. War doch so, oder? Oder willst du noch mal … kommen?«
Boris nickte. Vielleicht war sie verärgert, weil er vor ein paar Wochen einfach spurlos verschwunden war, ohne sich zu verabschieden.
»Ich konnte es nicht verhindern«, versuchte er sich zu entschuldigen. »Jetzt bin ich zurück.«
Ihre Blicke wanderten zweifelnd an ihm herab.
»Und da bist du dir ganz sicher?«, fragte sie spöttisch.
»Ja.«
Sie seufzte. »Na gut. Komm mit. Können wir es kurz halten? Ich bin müde. Außerdem musst du dich vorher waschen. Du stinkst, als wärst du durch eine Kloake gewandert. Ich habe das Recht, wählerisch zu sein, und ich bin noch nicht zu alt, um es mir nicht mehr leisten zu können.«
Sie ging die Treppe nach unten und Boris folgte ihr in die Waschküche. Eine Wäscherin begann gerade mit ihrer Arbeit.
»Zieh dich aus«, befahl sie Boris. Er gehorchte und Adele entriss ihm die Uniform, warf sie in einen Bottich.
»Sei so gut, Michaela. Kümmere dich darum«, bat sie die Wäscherin und wies Boris an: »Da hinten findest du Wasser und Seife. Fang schon mal alleine an. Ich komme gleich nach und helfe dir.«
Adele verließ die Waschküche. Boris hörte, wie sie die Treppe wieder nach oben ging, an eine Zimmertür klopfte und er hörte auch für einen Moment Millas verschlafene Stimme, bevor sich die Tür hinter den beiden Frauen schloss.
Boris sah sich um. In einer hinteren Ecke standen ein Stuhl und ein Waschtisch mit Wasser und Seife. Mondlicht fiel durch ein Kellerfenster. Eben hatte es noch sanft mit Adeles Haar gespielt, in der Waschküche wirkte es auf einmal hart und fahl. Von den Bottichen mit Wäsche stieg Dampf auf, dennoch war es bitterkalt. Der Dampf kondensierte an den grob verputzten Wänden, an dem Metall, das seinen Körper beherrschte. Boris ging zum Waschtisch, griff nach der Seife und konnte sich nicht erklären, warum er sich so elend fühlte, so trostlos und verlassen.
»Warte, mein Junge«, sagte die Wäscherin mütterlich, obwohl sie mindestens zehn Jahre jünger war als er. Sie spannte eine Wäscheleine, fischte aus einem Korb ein Bündel feuchter Laken und hängte sie über die Leine. »Ist vielleicht besser so«, sagte sie gutmütig und ließ ihn in dem abgetrennten Teil allein. Boris hörte, wie sie jenseits der Laken damit begann, Wäsche über ein Waschbrett zu schrubben.
»Danke«, murmelte Boris, ohne genau zu wissen, wofür. Für die freundliche Geste? Die Wärme in ihrer Stimme? Er sehnte sich danach, dass jemand freundlich zu ihm war. Vor dem Kellerfenster wurde es Grau. Boris tauchte die Seife ins Wasser, fing an, sich zu waschen. Er schaute nicht auf, drehte sich nicht um, als Adele zurückkehrte, die Laken beiseite schlug und stehen blieb, um ihn zu beobachten.
»Es tut mir leid, wenn du böse auf mich bist«, sagte Boris.
Adele seufzte und durchquerte den Raum, nahm ihm die Seife aus der Hand.
»Mir tut es leid«, erwiderte sie und ihre Stimme klang nicht mehr so abweisend. »Du hast mir Angst eingejagt.«
»Ich würde dir nie etwas tun«, sagte er bestürzt.
Sie lachte gekünstelt.
»Und«, sie spielte kokett mit der Seife, strich ihm über die Seite, ließ ihre Finger zu seinem Bauchnabel gleiten, »was soll ich jetzt für dich tun?«
Boris fühlte einen Schmerz, den er nicht deuten konnte, den er nicht verstand. Er hielt ihre Hand fest, bevor sie tiefer wandern konnte, merkte erschrocken, dass er zu fest zudrückte, und ließ los.
»Jetzt bist du böse auf mich.« Sie versuchte, es leichthin klingen zu lassen.
Boris schüttelte den Kopf.
»Dann wirst du Natalja nicht verraten, wie garstig ich zu dir war?«
Boris schloss die Augen. Ihr Tonfall quälte ihn, es klang, als würde sie mit einem ihrer Kunden reden.
»Komm schon. Irgendetwas muss ich doch für dich tun können. Wer ist Wassilisa? Soll ich sie für dich sein?«
Es schnürte ihm die Kehle zu. Ja, das war eine Erinnerung, die ihm Halt gab. Vielleicht war Wassilisa nicht real, diese Nacht nie passiert, doch es spielte keine Rolle. Halluzinationen waren das Beste in seinem Leben. Er sah Adele an, brachte ein flehendes Nicken zustande.
»Gut, und was hat sie getan?«
Sie hatte ihm einen Schutz mitgegeben, nicht nur, weil sie in dieser einen Nacht zu ihm gekommen war, sondern durch ihre Freundlichkeit. Sie hatte Stille mit ihm geteilt, hatte ihm schweigend Nähe geschenkt. Boris zog den Stuhl heran, setzte sich und senkte den Kopf.
»Wie? Ich verstehe nicht …«
Hinter dem Vorhang aus Laken bearbeitete die Wäscherin immer noch Stoff mit dem Waschbrett, Wasser plätscherte.
»Boris, ich verstehe nicht, was du von mir willst.«
Ohne sie anzusehen, nahm er ihre Hand, die die Seife hielt, und legte sie auf seinen Kopf.
»Ich soll dir die Haare waschen?«, fragte sie verblüfft, beinahe empört.
Boris nickte. Er sehnte sich nach dem stillen Moment des ersten Abends in Cöln zurück, die seltsame, unbekannte Art von Vertrautheit.
»Na, da hat jemand aber einen ganz ausgefallenen Geschmack. Da hast du das große Los gezogen, alles kostenlos im besten Haus von Cöln, und du willst die Haare gewaschen bekommen.«
Sie lachte. Nicht so abfällig, wie sie sich mit dem Fettwanst zusammen über ihn lustig gemacht hatte, jetzt klang ihr Lachen kokett, einstudiert, professionell. Es war noch schlimmer als der Spott. Sie lachte, als sie die Seife ins Wasser tauchte und in sein Haar einmassierte. Sie wusch damit den Trost aus seiner Erinnerung, das Gefühl von Nähe. Sie spülte das Bild von Wassilisa fort und Uljana tauchte in seinem Bewusstsein auf. Sein leerer Magen krampfte sich zusammen, er übergab sich, Säure verätzte seine Kehle. Boris spuckte aus.
»Na, da hat einer wohl kräftig getrunken.« Adeles gurrender Tonfall konnte die Abneigung und Verachtung nicht überdecken. »Wollen wir mal sehen, ob wir ihn überhaupt noch zum Stehen bringen können?«
Boris‘ Magen drehte sich ein zweites Mal um. Adele hielt angewidert die Luft an.
»Ich möchte wissen, was du getan hast, damit Natalja so ein Aufheben um dich macht?«
Es war keine Frage, auf die sie eine Antwort erwartete, es war nur ein Mittel, um ihren Ekel auszudrücken.
»Geh weg!«, bat Boris, bevor sich der letzte Rest Erinnerung an den Abend mit Wassilisa in etwas Schreckliches verwandeln konnte.
Irgendwo im Haus war Natalja zu hören, sie war zurück und rief nach Sven. Sie wechselten ein paar Worte, während sie den Flur entlang gingen und sich dem hinteren Teil des Salons näherten.
»Und wie sieht es mit meinem persönlichen Gast aus?«, fragte Natalja. »Haben sich die Mädchen benommen? Er ist nicht ganz das, was sie normalerweise gewohnt sind.«
»Ja, keine Sorge, haben sie«, antwortete der Wachmann, »Milla hat sich um ihn gekümmert.«
»Sehr gut. Auf Milla ist immer Verlass. Wo ist er jetzt?«
Sie standen jetzt vor der Tür zur Waschkammer. Auch Adele spitzte die Ohren.
»Ich glaube, bei Adele. Das Kind, das er bei sich hat, schläft oben in einer der Dachkammern.«
»Adele«, stöhnte Natalja, »ausgerechnet! Wehe ihr, sie benimmt sich nicht. Dann kann sie sich nach einer anderen Anstellung umsehen, dann kann sie von mir aus in die Hafenbordelle zurückkehren.«
Plötzlich saß Adele rittlings auf seinem Schoß.
»Na, dann wollen wir doch mal sehen, wie wir dich zufriedenstellen können.«
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Eine weitere kostbare Erinnerung, die drohte, sich in Gift zu verwandeln. Er nahm zitternd ihre Handgelenke, löste die Umklammerung. Adeles falsches Lächeln verschwand.
»Was willst du?«, fragte sie bösartig. »Willst du, dass ich Ärger bekomme? Ist es das?«
»Nein«, sagte Boris heiser.
Das falsche Lächeln kehrte zurück.
»Du hast dich ein wenig überschätzt, nicht wahr? Hast gedacht, du würdest noch eine zweite Runde schaffen. Keine Sorge, das passiert allen Männern. Komm, wir machen ein Geschäft«, sie beugte sich vor, flüsterte in sein Ohr, »du verrätst Natalja nichts und ich sag allen, was für ein toller Hengst du bist.«
Zum dritten Mal schoss Magensäure in Boris’ Kehle hoch.
»Du verträgst wohl nicht viel Alkohol? Keine Sorge, auch das verrate ich niemandem.«
Adele stand von seinem Schoß auf und er ließ ihre Handgelenke los. Schnell zerzauste sie ihre Haare, zog ihr Nachthemd über ihre Schultern und schlug den Vorhang aus Laken beiseite.
»Oh«, machte sie und blieb erschrocken stehen, »Michaela. Ich hatte ganz vergessen, dass du noch da bist. Sind seine Sachen fertig? Du weißt, er ist Nataljas persönlicher Gast.«
»Ich bin gerade dabei, sie auszuwringen«, sagte die Wäscherin.
»Hm. Ja, gut. Na dann, gute Nacht, Michaela.«
Adele ging, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Boris krümmte sich zusammen.
»Wassilisa«, wimmerte er leise, versuchte seine Erinnerung, seinen Trost zu retten. Hinter dem Vorhang rauschte Wasser. Michaela holte Wäsche aus einem Bottich, begann sie auszuwringen.
»Ah, Adele«, sagte Natalja, schon auf dem Weg nach oben. »Gut, dass ich dich noch sehe. Wie ich höre, hast du dich meines speziellen Gastes angenommen. Ich hoffe, es kommen keine Klagen.«
Adele lachte. »Er wird sich höchstens über Entkräftung beklagen.«
»Sehr gut«, lobte Natalja zufrieden. »Ich ziehe mich zurück und möchte bis heute Nachmittag nicht gestört werden. Richte das den anderen aus.«
Adele und Natalja gingen. Boris blieb auf dem Stuhl sitzen, zusammengekrümmt, unglücklich.
»Wassilisa«, wisperte er.
Michaela, die Wäscherin, zog die Laken beiseite, kam auf ihn zugeschlurft und legte ihm eine Decke über die Schultern.
»Du darfst es den Mädchen nicht übel nehmen«, sagte sie warmherzig, »sie wissen es nicht besser.«
Boris nickte matt.
»Ich habe deine Sachen zum Trocknen vors Feuer gehängt, aber sie werden wohl noch eine Weile brauchen. Soll ich dir Ersatz raussuchen, oder willst du warten?«
»Warten.« Seine Stimme ging fast im Krächzen unter.

Als die Sonne aufging, legte Michaela seine trockene und sauber gefaltete Uniform neben ihm auf dem Boden ab und drückte ihm eine Tasse Tee in die Hände.
»Danke«, murmelte er.
Irgendwann stand er auf, zog sich an und ging nach oben in die Dachkammer.


 

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